Der Tod geht um in Charkiw

Die 1,4 Millionen Einwohner zählende Großstadt Charkiw im Nordwesten des Ukraine sollte eigentlich unzähligen Berichten zufolge als erste Stadt am Tage der russischen Invasion fallen. Nur 40 Kilometer von der russisch-ukrainischen Grenze entfernt wäre es eigentlich kein Problem gewesen, die Gunst der Überraschung zu nutzen und die zweitgrößte Stadt der Ukraine ohne nennenswerten Widerstand zu erobern. Doch dann kam alles anders. Die ukrainischen Streitkräfte können den Ort seit sechs Tagen erfolgreich halten, immer wieder werden russische Soldaten gefangengenommen und Militärkonvois an den Stadtgrenzen zerstört. Entsprechend unzufrieden ist die russische Armee, die deswegen schwerere Geschütze auffahren: Schwere Artillerie, Raketen und Luftschläge treffen das ganze Stadtgebiet ohne Rücksicht auf zivile Opfer, Dutzende Menschen sind dadurch gestorben und unzählige Wohnungen zerstört. Das alles ist das Vorspiel davon, was weite andere Teile der Ukraine erleben wird, sollte Russland weiter auf Widerstand stoßen.

Ursprünglich versuchte sich das russische Militär in der Vermeidung von Angriffen auf zivile Ziele, seien es Wohnungen, öffentliche Institutionen oder allgemein öffentliche Plätze. Dies bedeutete aber auch nur einen begrenzten Einsatz diverser Waffensysteme, weshalb nun eine Taktikänderung stattfindet. Diese zeigte am Dienstag Morgen bereits ihre ersten Auswirkungen: International geächtete Streumunition wird gegen Wohnviertel eingesetzt, Artilleriesalven töten mehrere Personen auf offener Straße wie Videos zeigen und eine ballistische Rakete verfehlte wohl ihr eigentliches Ziel und explodierte stattdessen auf dem Zentralplatz von Charkiw. Nicht-detonierte Bomben pflastern vielerorts die Straßen, teilweise auch direkt neben Spielplätzen. Dabei ist es wenig hilfreich, dass russische Waffensysteme generell eher ungenau sind und dadurch zivile Verluste nicht minimiert werden. Insgesamt sollen in den letzten zwei Tagen 30 Menschen in Charkiw getötet worden sein, Tendenz steigend. Die verbliebenen Einwohner haben mit Essensrationierung und plündernden russischen Soldaten zu kämpfen, jedoch soll die Stadt nicht vollständig umkreist sein. Mit steigender russischer Frustration steigen aber auch die willkürlichen Angriffe.

So wie die letzten zwei Tage kam es außerhalb der Südukraine kaum zu Gebietsveränderungen, vielmehr steht deswegen die Frage im Raum, wie sehr und genau das von Russland eroberte Gebiet auch von ihnen kontrolliert wird. Denn in Wirklichkeit ist dieses Kontrollgebiet eher von einer autonomen Selbstverwaltung, als von russischer Herrschaft geprägt. Während in den größeren Orten auch russische Sicherheitskräfte präsent sind, sieht es auf dem Land sehr viel anders aus. Dort betritt vielleicht einmal ein kleiner Konvoi russischer Fahrzeuge einen Ort, verweilt dort für kurze Zeit und fährt dann weiter. Was vor allem dem Umstand geschuldet ist, dass der Krieg weiter fluid ist und es kaum befestigte Frontlinien gibt.

Deswegen gibt es hinter den feindlichen Linien nicht nur zur Ausbildung auf Ausrüstung von Partisanen, sondern allgemein zu Unruhen und Aufstandsversuchen. Beispielhaft ist das an der erst kürzlich von Russland gesicherten Hafenstadt Berdjansk, wo Militärfahrzeuge mit Molotow-Cocktails angegriffen werden oder es zu Protesten gegen die neuen Besatzer kommt. Anderswo sind die „Territorialen Verteidigungskräfte“ als aus der Bevölkerung heraus aufgestellte und lokale Milizen ebenfalls aktiv und zerstörten beispielsweise in der umkämpften Stadt Butscha einen Transportpanzer, der die Bevölkerung zu Ruhe und Besonnenheit anregte. Selbst vor Faustkämpfen macht man nicht Halt. Auch Überfälle durch professionelle Militärs sollen an der Tagesordnung liegen, jedoch sind diese nicht durch Bilder oder Videos belegt.

Der desolate Zustand der russischen Streitkräfte innerhalb der Ukraine wird immer offensichtlicher. Immer neue Informationen werden veröffentlicht, die zwar mit Vorsicht zu genießen sind aber dennoch eine Tendenz erkennbar werden lassen, wie z.B. angebliche Bilder von der Nutzung ziviler Fahrzeuge für dien Konflikt illustrieren. In Charkiw gab es auch Meldungen von Plünderungen von Märkten und dem Ausrauben von Banken, was die Theorie mit den Versorgungsproblemen weiter verstärkt. Hinzu kommen nun Videos, die einerseits Nahrungsrationen der russischen Armee mit einem Haltbarkeitsdatum bis 2015 zeigen, andererseits wohl die Motorisierung weiterhin Probleme bereitet.

Russische Soldaten mussten vereinzelt ihre Rückkehr zur russischen Militärbasis zu Fuß ablegen, ohnehin ist die Frage des verfügbaren Treibstoffes ein großes Fragezeichen bei dieser Offensivoperation. Denn die ukrainische Armee kann ohne Probleme etliche unbeschädigte Fahrzeuge am Straßenrad bergen und nutzbar machen, denen es wohl nur ans Benzin mangelt. Teilweise nutzten das sogar Zivilisten aus, insbesondere bei ukrainischen Bauern scheinen Kriegstrophäen sehr beliebt zu sein. Teilweise werden aber auch russische Fahrzeuge vom russischen Militär per erbeuteten Traktoren abtransportiert, was weiter für die Nachschubprobleme spricht.

Entsprechend niedrig ist auch die Moral. Aus den täglich mehr werdenden russischen Gefangenen ist fast immer der gleiche Narrativ zu hören, nämlich dass sich die Soldaten nur auf ein Trainingsmanöver an der russisch-ukrainischen Grenze vorbereitet haben und auf keinen Einmarsch in der Ukraine. Wenn sie das taten, dann aber in der Ansicht von der Bevölkerung mit offenen Armen als Befreier willkommen geheißen zu werden, also das völlige Gegenteil von der Realität. Einige veröffentlichte Privatchats zeigen zumindest diesen Narrativ, wobei nicht überprüfbar ist, ob diese Nachrichten echt sind. Zu einer desolaten materiellen Situation kommt also auch eine desaströse Moral hinzu.

Im Gegensatz dazu ist die Versorgungs- und Nachschublinie zwischen ukrainischer Regierung und dem Westen in vollem Gange, in der vergangenen Nacht erreichten die ersten Lieferungen der Niederlande an Panzer- und Luftabwehrwaffen die ukrainische Grenze. Etliche andere Länder kündigten ebenfalls ähnliche Unterstützung für die Ukraine, zuletzt sogar die „neutraleren“ Länder wie Schweden mit Panzerabwehrwaffen, Finnland mit Munition, Nahrung und Schusswaffen und Norwegen nochmals mit Panzerwerfern. Von besonderer Bedeutung ist aber der sehr schnell aufgebaute Handel von dutzenden Kampfjets aus osteuropäischen Beständen an die Ukraine. Bis zu 70 Flugzeuge, darunter in erster Linie eigentlich ausgemusterte MiG-29 und Su-25 aus Ländern wie Polen, Tschechien, Bulgarien oder der Slowakei. Damit würde die Ukraine die Größe ihrer Luftwaffe von vor dem Ausbruch des Krieges um ein Drittel erhöhen, zudem ist daran die Hoffnung der EU gesetzt, dass Russland weiterhin nicht die Lufthoheit erringen wird.

Dass die Situation in der Ukraine im Monat Februar erneut eskalieren würde, war bereits früh abzusehen. In den Monaten zuvor verlegte Russland einen Großteil seiner mobilen Streitkräfte an die ukrainisch-russische Grenze. Dies wurde mit den alljährlichen Trainingsmanövern begründet, jedoch war diese Entwicklung äußerst ungewöhnlich: Übungen werden normalerweise mit den vorhandenen Truppen innerhalb der insgesamt fünf Militärbezirke durchgeführt, in diesem Falle wurden jedoch russische Soldaten aus dem ganzen Land zusammengezogen, vor allem auch aus Sibirien. Mindestens 190.000 Soldaten sind daran laut dem OSZE beteiligt, darunter auch einige Einheiten der Nationalgarde wie tschetschenische Gruppierungen rund um den Verbündeten Ramsan Kadyrow. Zudem wurden die Truppenverlegungen auf Belarus und die Krim erweitert, wo sie in behelfsmäßig errichteten Militärquartiere unweit der Ukraine stationiert wurden, wie Satellitenbilder beweisen.

Das russische Verteidigungsministerium berichtete zwar, das nach dem Ende der Truppenübungen die involvierten Streitkräfte wieder abgezogen und zu ihren Heimatbasen zurückkehren sollte. In Wirklichkeit geschah jedoch das Gegenteil: Ununterbrochen wurden weitere Truppenverbände in die Nähe der Ukraine gebracht, zudem wurden zwar die für die „Übungen“ errichteten Militärbasen teilweise verlassen, Militärverbände stattdessen aber nur näher an die Grenze transportiert. Insbesondere in der Region um Belgorod und Kursk gab es erhebliche Truppenbewegungen zu verzeichnen. Dieses Szenario ähnelt dem Georgienkrieg im Jahre 2008, wo fünf Tage vor Anbeginn des Konfliktes Russland ebenfalls verkündete, in Folge eines abgeschlossenen Trainings ihre Soldaten abziehen zu wollen.

Im Donbass folgten daraufhin eine Reihe von False-Flag-Aktionen durch die Volksrepubliken, die bei der russischen und lokalen Bevölkerung die Motivation für weitere Eskalationen und den Krieg heben sollten. Diese wurden auch entsprechend dankbar von medialen Narrativen übernommen, obwohl darunter sehr offensichtliche Inszenierungen waren: Über die polnischen Spezialeinheiten die ein Ammoniaklager sprengen wollten, über Videobeweise die bereits zehn Tage vor der Tat aufgenommen wurden, ukrainische Selbstmordattentäter im Zentrum von Donezk oder ukrainische Einheiten, die problemlos separatistische Gebiete durchqueren konnten, nur um dann russisches Territorium zu betreten und dort getötet zu werden geht die Liste lang. Auch hier gilt wie in jedem Krieg: Die Wahrheit stirbt zuerst.

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