Eine neue Armee als letzte Hoffnung

Seit drei Tagen dauert die ukrainische Gegenoffensive im Süden des Landes an, aufgrund des Nebel des Krieges dringen nur spärlich Informationen an die Außenwelt, entgegen russischer Narrative gibt es aber keinerlei Anzeichen dafür, dass die Operation im Sande verläuft und bereits gescheitert ist. Im Gegenteil können ukrainische Einheiten vorrücken und neue Positionen einnehmen, nur ist das genaue Ausmaß bisher unklar. Russland setzt derweil ihre Hoffnung auf eine neu gegründete Einheit, das 3. Armeekorps. Jedoch bereits vor ihrem ersten Kampfeinsatz sorgen sie für Kritik und geben wenig Anlass für Optimismus, eine Kriegswende herbeizuwirken.

Die ukrainische Gegenoffensive in Kherson ist in vollem Gange. Es ist wenig über die Vorstöße, Truppenbewegungen oder den Verlauf der Operation bekannt, nur wenige Informationen darüber dringen inmitten vom Nebel des Krieges an die Außenwelt. Das ukrainische Militär hat eine Kommunikationssperre verhangen, weswegen mit der Ausnahme einiger weniger Videos fast sämtliche Medien von russischer Seite stammen, die fast täglich vom Scheitern und dem Ende der ukrainischen Offensive sprechen, dessen Angriffe allesamt abgewehrt und dem Gegner schwere Verluste zugefügt werden konnten. Die Realität, insofern die Öffentlichkeit Zugang zu ihr hat, spricht eine andere Sprache, wonach ebenfalls pro-russische Aktivisten von nicht näher bestimmten Erfolgen ukrainischer Einheiten reden und allerlei Problemen in den eigenen Reihen.

Offenbar besteht die ukrainische Operation aus etwa drei Vorstoßrichtungen, von der direkten Verbindungsstraße zwischen Kherson und Mikolajew im Süden, dem Brückenkopf über den Inhulets-Fluss im Zentrum und von Kriviy Rih im Norden. Den größten Erfolg haben wohl die letzten zwei Regionen vorzuweisen, auch wenn wie erwähnt es kaum Details und nur Gerüchte gibt, die unter anderem von Fortschritten von bis zu zehn Kilometer in die feindlichen Verteidigungspositionen hinein sprechen. Laut Russland konnten die für den Brückenkopf benötigten Pontonbrücken zerstört werden. Angesichts dem Fakt, dass diese seit Monaten existierten erscheint es jedoch eher unwahrscheinlich, ohnehin dringen von diesem Frontabschnitt keine Informationen heraus. Während das russische Verteidigungsministerium von über 100 zerstörten Militärfahrzeugen der Ukrainer spricht, sind seit Anbruch der Operation ungefähr zwölf visuell bestätigt. Innerhalb von drei Tagen ist das zwar ein Anstieg für ukrainische Verhältnisse, jedoch verliert Russland ungefähr das Sechsfache im selben Zeitraum.

Insgesamt stehen also viele Fragezeichen im Raum, die sich nicht beantworten lassen. Es ist viel zu verfrüht, um von einem Erfolg bzw. Misserfolg in diesem Fall zu sprechen. Der Reflex, die Operation bereits für gescheitert zu erklären ist irrational angesichts dem Fakt, dass Russland zur Eroberung eines 800-Seelen-Dorfes über einen Monat benötigt. Sollten sich bisherige Gerüchte bewahrheiten, würde die Ukraine ein größeres Gebiet wiedererobert haben, als Russland seit Juli einnehmen konnte. Dank der Kommunikationssperre der Ukraine existiert aber ein Narrativvakuum, welcher von russischen Medien dankend gefüllt wird. Dieser Fehler scheint ebenfalls Kiew aufzufallen, weswegen nun vermehrt wieder Videos gezeigt werden, die zumindest die Zerstörung russischen Militärequipments zeigen. Nach langer Abwesenheit zeigen sich dadurch auch wieder die türkischen Bayraktar-TB2-Angriffsdrohnen, welche Artilleriegeschütze und Panzer zerstören.

Dass ukrainische Drohnen aggressiver und zumindest öffentlich öfters auftreten ist auch Ausdruck ein schwächelnden Luftabwehr des Kontrahenten, die in Vorbereitung für die Operation wohl prioritär attackiert wurde, vor allem mithilfe der amerikanischen HIMARS und den Anti-Radar-Raketen (HARM) für ukrainische Kampfjets. Erst heute wieder wurde ein Video veröffentlicht, welches ein zerstörtes Pantsir-1-Luftabwehrsystem südlich von Kherson zeigt, mutmaßlicher Täter: HARM. Mittelfristig könnte die Ukraine also eine Luftdominanz in der Region entwickeln, wonach es zumindest bisher aussieht. Die ukrainische Gegenoffensive wird jedoch einen langen Zeitraum einnehmen und wohl bis in den Winter hineingehen, wo die nur noch mühselig mit Fähren versorgten russischen Truppen mit noch größeren Problemen konfrontiert werden.

Russland scheint seine Hoffnungen wohl auf zwei Projekte zu setzen: Erstens die Abkehr Europas im Winter in Folge der steigenden Lebensunterhaltungskosten und den damit verbundenen Protesten innerhalb der Bevölkerung. Zweitens eine Veränderung der militärischen Situation im Ukrainekrieg durch den Einsatz des neu gebildeten 3. Armeekorps, welches seit den letzten Tagen überall in der Süd- und Ostukraine stationiert sein soll. Die ungefähr 10.000 Soldaten zählende Formation soll die Situation auf dem Schlachtfeld zugunsten Russlands verändern, denn es ist erstmals die bekannte Verlegung einer größeren Anzahl russischer Soldaten in den Ukrainekrieg, welche eigens dafür gebildet und aufgebaut wurden. Doch bereits jetzt schon gibt es erhebliche Skepsis daran, ob das Armeekorps die investierten Hoffnungen auch erfüllen kann, denn vieles spricht zum aktuellen Zeitpunkt dagegen.

Denn das Dritte Armeekorps besteht zwar offiziellen Angaben aus 10.000 frisch rekrutierten Freiwilligen, ursprünglich angepeilt und normal für ein russisches Korps wären aber 15.000 Soldaten, ergo ein Drittel an Personal fehlt. Einige der zur ukrainischen Grenze transportierten Truppen wurden mit BMP-3-Schützenpanzern und T90M-Kampfpanzern gesichtet, welche für die russischen Streitkräfte vergleichsweise modern sind. Dabei handelt es sich nur um einen Bruchteil des gesamten Korps, jedoch wäre es nicht unwahrscheinlich, wenn Russland noch einiges an effektiven Kriegsgerät für die Bildung einer neuen Einheit zurückgehalten hatte, für tiefere Analysen in Hinsicht des Equipments ist es aber noch zu verfrüht. Das wahre Defizit könnte sich eher durch das Personal ergeben, die bereits vor ihrem Einsatz an den Frontlinien einerlei Kritik und Sorge verursachten.

Die Soldaten bestehen aus Freiwilligen, die in Folge vom Wegfall eines Maximalalters rekrutiert wurden. Ein großer Teil des Armeekorps besteht aus über 40-Jährigen, die mit den für russische Verhältnisse hohen Gehälter gelockt wurden, ähnlich den frisch von den verschiedenen russischen Provinzen gebildeten Milizen. Beim tatsächlichen Feindkontakt wird die Moral also bedingt hoch sein, gemessen daran dass es sich vielmehr um Söldner im Dienste des russischen Staates handelt. Auf dem Trainingsstützpunkt des 3. Armeekorps in der westrussischen Stadt Mulino berichten Anwohner regelmäßig von Querelen und Problemen mit den Soldaten, welche nachts betrunken durch den Ort ziehen und Bewohner belästigen, insbesondere Frauen. Auch haben diese Soldaten wohl nur etwa eine zweitmonatige Ausbildung erhalten, was zwar innerhalb des Krieges eine durchaus ausgewachsene Dauer darstellt, aber völlig ungenügend in Friedenszeiten und für die Erwartungshaltung gegenüber der Formation ist. Zudem soll sich das Armeekorps überall an der Frontlinie verteilt sein, statt eine konzentrierte Einheit für eigene Operationen darzustellen, scheinen sie stattdessen Löcher in den eigenen Reihen zu flicken. Es gibt also wenig Anlass für Optimismus.

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