Was die NATO-Geheimdokumente über den Ukrainekrieg verraten

Im Verlaufe der letzten 24 Stunden sind vermehrt Bilder aufgetaucht, die vermeintliche Seiten eines NATO-internen Dokumentes zur Situation und aktuellen Verlaufs des Ukrainekrieges abbilden. Was ursprünglich Anfang März auf dubiosen Discord-Servern und dem Imageboard 4chan seinen Anfang nahm, erlangte erst in den letzten Tagen durch russische Telegramkanäle an Bekanntheit, inklusive einer bearbeiteten Version der Dokumente, um die eigenen höheren Verluste zu kaschieren. Trotz der eigentlich pikanten Veröffentlichung solcher Dokumente verbergen sich nur wenig unbekannte Informationen dahinter, welche nicht in anderer Form bereits bekannt sind. Trotz dieses Umstandes gibt es einige interessante Details, die es näher zu betrachten gilt.

Zu Beginn wurden die geleakten Bilder und sämtliche damit verbundenen Informationen als mühsame Eigenkreation abgetan. Erst mit dem indirekten Eingeständnis der amerikanischen Regierung und des Pentagons, wonach aktuell geheime NATO-Dokumente im Internet kursieren und man entsprechend auf der einen Seite gegen deren Veröffentlichung vorgehen möchte und auf der anderen Seite den möglichen Täter sucht. Zudem sind die vorhandenen Seiten viel zu detailliert und aufwendig gestaltet, um sie als einfache Fake News abzutun. Der ursprüngliche Diskurs wurde stattdessen durch die Diskussion ersetzt, ob es sich dabei um ein absichtliches Täuschungsmanöver der USA handelt, oftmals mit historischen Referenz zur britischen „Operation Mincemeat“ aus dem Zweiten Weltkrieg.

Die Umstände und Ursachen werden wohl auch auf längere Zeit in Unklarheit gehüllt sein, weswegen man sich auf das Vorhandene konzentrieren sollte: Die verfügbaren Dokumente. Insgesamt zehn Seiten wurden nach aktuellem Kenntnisstand veröffentlicht, etwa die Hälfte davon konzentriert sich auf die Truppenverhältnisse zwischen Russland und der Ukraine entlang der Front, einige über die Ausrüstung und das Training mehrerer ukrainischer Militärbrigaden in Verbindung mit einer erwarteten Frühlingsoffensive und weitere zwei Seiten um die allgemeine Situation in Europa und der Ukraine, darunter auch die Witterungsverhältnisse.

Letztere sind von relativ geringem Interesse, jedoch zeigen sie auch einige interessante Details: Russland hat inzwischen 97% ihrer gesamten Streitkräfte im Ukrainekrieg involviert, 90% davon auf ukrainischem Territorium direkt. Laut den äußerst konservativen Schätzungen erlitt Russland 36.000 bis 44.000 Tote, 154 zerstörte Flugzeuge oder Helikopter und zudem knapp über 6.000 zerstörte Fahrzeuge. Letztere Zahl scheint direkt von Oryx zu stammen, wo die Anzahl für den 1. März zutrifft, abzüglich leichterer Fahrzeuge wie Trucks oder Jeeps. Die Ukraine hingegen soll 16.000-17.500 Soldaten verloren haben. Die USA spricht regelmäßig auf beiden Seiten von wesentlich höheren Verlusten, über 100.000 auf ukrainischer und 200.000 auf russischer Seite. Dies beinhaltet aber ebenfalls Verletzte und Vermisste, inklusive von Milizen und anderen Organisationen außerhalb der regulären Streitkräfte, während man intern wesentlich pessimistischer zu kalkulieren scheint.

Diese Statistiken waren zeitweise Anlass für erheblichen Trubel, denn pro-russische Kanäle bearbeiteten die Verluste und vertauschten sie letzten Endes, sodass die Ukraine ein vielfaches der Verluste davontragen musste, während Russland selber nur marginale Zahlen und insbesondere nur 600 Fahrzeuge verlor. Das war einer der Hauptfaktoren, der zur Diskreditierung der Papiere führte.

Exklusiver hingegen sind die Informationen über das breit aufgestellte Trainingsprogramm verschiedener NATO-Staaten, welche aktuell neun ukrainische Brigaden in Europa ausbilden. Diese Einheiten erhalten innerhalb eines zweimonatigen Zyklus Training und sollen in der bevorstehenden Frühlingsoffensive eine herausragende, offensive Rolle spielen. Dafür erhalten sie zu weiten Teilen modernes westliches Equipment, beispielsweise die deutschen Leopard-2-Panzer oder Marder-Truppentransporter, französische AMX-10-Spähpanzer oder estnische D-30-Artilleriehaubitzen. Sechs von diesen Brigaden sollen planmäßig bis Ende März bereitstehen, abhängig von der nötigen und rechtzeitigen Versorgung von westlichem Kriegsgerät und dem Trainingsgrad. Die letzten drei und drei weitere, in der Ukraine ausgebildete und ausgerüstete Brigaden, sollen dann bis zum 30. April einsatzbereit sein.

Ob dies der Startschuss für eine ukrainische Gegenoffensive bedeutet, ist aber noch unklar. In dem in den Dokumenten gezeigten Zeitstrahl soll die Operation bereits Anfang April starten, wofür es aber bisher keinerlei Anzeichen gibt. Dies wird von vielen Personen als Indikator genutzt, dass die Dokumente ein absichtliches Täuschungsmanöver war und eine Drohkulisse gegenüber Russland aufbauen sollte. Der andere Beweis könnten die von den USA genutzten oder scheinbar verfügbaren Zahlen von Soldaten und Einheiten entlang der Frontlinien zeigen, was exemplarisch an dem Bachmut-Abschnitt erkennbar ist:

Bachmut markiert in den letzten acht Monaten den am härtesten umkämpften Ort im gesamten Land, entsprechend hoch ist als auch die Dichte an Soldaten auf beiden Seiten. Bachmut ist dabei eines der wenigen Gebiete, an dem beide Länder eine ähnlich hohe Anzahl an Frontkämpfern vorweisen können. Namentlich sind das auf russischer Seite 29.000 Soldaten, davon 22.000 Kämpfer der Privatarmee Wagner, und 15.250 bis 30.500 ukrainische Soldaten. Wohlgemerkt stammen sämtliche Zahlen von Anfang März, weswegen sie in der Zwischenzeit sich wahrscheinlich verändert haben, die Trends aber gleich bleiben. Bachmut bildet mit diesem Verhältnis eine große Ausnahme, nach den einzelnen Regionen gestaffelt ergibt sich klar ein Bild des russischen Vorteils:

  • Donezk: 1:1-2 (UKR= 10.000-20.000 / RUS= 23.050)
  • Bachmut: 1:1-2 (UKR= 15.250-30.500 / RUS= 29.000, inklusive 22.000 Wagner)
  • Charkiw: 1:3-7 (UKR= 7.250-14.500 / RUS= 48.600)
  • Kherson: 1:6-12 (UKR= 1.250-2.500 / RUS= 15.650)
  • Saporischschja: 1:3-6 (UKR=4.000-8.000 / RUS= 23.250)
  • „Off-Front“ (Belarus, russische Grenze etc.): 1:0,7-1 (UKR=4.250-8.500 / RUS= 5.850)
  • Insgesamt: 1:1,7-3,5 (UKR= 42.000-84.000 / RUS= 145.400)

Russland kann also das 1,7- bis 3,5-fache an Frontsoldaten aufbieten, besonders schwerwiegend ist das Verhältnis dabei in Charkiw und Kherson, wo es zu verhältnismäßig wenig Gefechten kommt. Die Anzahl von insgesamt 145.400 russischen Soldaten scheint realistisch anhand der verfügbaren Kapazitäten zu sein, abzüglich des gesamten Logistikapparats im Hintergrund und anderen Aufgaben des Militärs. Zudem scheint diese Anzahl ebenfalls paramilitärische Verbände wie Wagner aber auch Freiwilligenbattalione, die Truppen der Volksrepubliken und andere Einheiten zu beinhalten. Zudem scheinen beispielsweise in Kherson sämtliche russischen Truppen in der Aufzählung inkludiert zu sein, selbst fernab der Frontlinien.

Für die Ukraine hingegen scheint es einigen Anlass für Skepsis zu geben bzw. andere Parameter zu gelten. Die geringe Anzahl scheint hauptsächlich darauf zurückzuführen sein, dass man sich nur auf die Kernarmee beschränkt. Die Territorialverteidigungskräfte (TDF) machen beispielsweise eine hohe sechsstellige Anzahl an Kämpfern aus, sind aber nur teilweise an den aktiven Frontlinien aktiv. Ähnlicher Faktor mit anderen Verbänden wie der Internationalen Legion oder jenen Kräften, die dem Innenministerium oder Militärgeheimdienst unterstehen und entsprechend nicht hinzu gezählt werden. Auch die große geschätzte Spanne, welche immerhin eine Differenz von bis zu 100% beträgt, zeugt davon, dass die USA wahlweise wenig Ressourcen in die Informationsbeschaffung auf ukrainischer Seite steckt oder keinen Anlass sah, detaillierte Zahlen in diesem Dokument zu veröffentlichen.

Letzteres würde die Theorie stärken, wonach es sich um ein absichtlich geleaktes Dokument handelt, was wiederum sämtliche Statistiken diskreditieren würde. Für ersteres Szenario spricht die Erfahrung des letzten Jahres, wonach die Ukraine und USA äußerst eng miteinander kooperieren und beispielsweise auch Geheimdienstinformationen bereitstellen, aber nicht vollkommen transparent sind. Zum Beispiel früh im Krieg teilte die USA mit der Ukraine nicht die Information, dass der damalige russische Generaloberst Alexander Lapin ein Kommandozentrum bei Izium besuchte in der Hoffnung, einen HIMARS-Einsatz gegen ihn und damit eine Eskalation zu verhindern. Der ukrainische Geheimdienst erfuhr trotzdem davon, Lapin überlebte verletzt den Angriff.

Die USA zeigte sich auch immer wieder überrascht vom Erfolg ukrainischer Offensiven, den dazu eingesetzten Ressourcen und damit verbundenen Verlusten oder ebenso irritiert von einigen militärischen Entscheidungen wie der anhaltenden Verteidigung von Bachmut. Besonders gravierend war das zu Beginn des Krieges, wo die amerikanische Öffentlichkeit und die Geheimdienste ein baldiges Ende der Ukraine erwarteten. Die Zusammenarbeit der beiden Länder ist zunehmend konstruktiv und intensiv, erreicht jedoch nie das Level, welches von pro-russischen Akteuren als „Vasallenschaft“ bezeichnet wird. Laut dem gleichen Dokument würden die derzeit ausgebildeten zwölf Brigaden eine Soldatenanzahl von 48.000 bis 60.000 ausmachen, was nahezu eine Verdoppelung vorhandener Kapazitäten bedeuten würde und eher unwahrscheinlich scheint. Da das NATO-Dokument ebenfalls für die Ukraine zugänglich ist könnte die USA auch nur den Schein wahren, nur eine ungefähre Ahnung von den ukrainischen Fähigkeiten zu haben. Denn welches Land wird von seinen Partnern gerne ausspioniert?

Insgesamt eröffnet das geleakte NATO-Papier nur weitere Fragen und Eventualitäten, anstatt die tatsächlichen Fakten auf den Boden zu beschreiben. Nichtsdestotrotz eröffnet es einen kleineren Einblick in die Arbeit und Fähigkeiten amerikanischer Geheimdienste und Perspektiven für die Prioritätssetzung innerhalb des Ukrainekrieges. Sollte sich der aus den Dokumenten resultierende Trend bestätigen, lassen sich zumindest zwei Tatsachen feststellen: Die bevorstehende ukrainische Offensive, wo auch immer sie stattfindet, könnte aufgrund ihrer Größe und den dafür verwendeten Ressourcen kriegsentscheidend sein und zweitens gibt es keinerlei Anlass dafür, dass der Westen die Unterstützung für die Ukraine schmälern oder geschweige beenden könnte, vielmehr nimmt die Kooperation immer mehr zu.

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