Ukraine & Russland rüsten für den Winterkrieg

In weiten Teilen der Ukraine liegt der erste Schnee. Von Kiew im Norden bis nach Mariupol im Süden bringen die neuen Wetterbedingungen Schwierigkeiten für Zivilisten und Militär gleichermaßen. Russland setzt mithilfe der iranischen Drohnenlieferungen darauf, über den Winter die ukrainische Bevölkerung durch die Zerstörung der Grundinfrastruktur zur Aufgabe bzw. Verhandlungen zu bewegen oder zumindest Flüchtlingsbewegungen in Richtung Europa zu verstärken, um den dortigen Unterstützungswillen für die Ukraine zu senken. Kiew hingegen setzt auf weitere Gegenoffensiven und Geländegewinne, um die Eroberungen im Herbst zu vertiefen und sich eine bessere Position für das kommende Jahr zu verschaffen. Die nächsten Monate werden also nicht weniger heiß im Ukrainekrieg.

Nach einer einmonatigen Unterbrechung nahm Russland seine Angriffe auf die ukrainische Infrastruktur im ganzen Land wieder auf. Dafür setzte Russland vor wenigen Tagen über 100 Marschflugkörper ein, die in der gesamten Ukraine Trafostationen, Elektrizitätskraftwerke und bisweilen auch offene Plätze und Wohnkomplexe angriffen; der größte Militärschlag seit den frühen Tagen des Krieges. Selbst ein 30 Kilometer von der polnischen Grenze entferntes Umspannwerk wurde dabei angegriffen. In den Städten Tschernigow und Dnipro wurden hingegen Wohnhäuser zerstört, mutmaßlich wohl das Resultat unpräziser russischer Raketen. Dennoch war der Schaden nicht zu gering, zeitweise waren über 30% der ukrainischen Bevölkerung von Stromausfällen betroffen.

Durch die sukzessive durch westliche Waffenlieferungen erfolgende Verbesserung der Luftabwehrsysteme war diese Mission nur bedingt von Erfolg geprägt. Wie bei den letzten Malen konnte der verursachte Schaden und die damit verbundenen Strom- und Wasserausfälle innerhalb weniger Tage behoben werden. Das Problem bleibt trotzdem bestehen, da es nicht der letzte russische Versuch dieser Art ist. Aufgrund der niedrigen Waffenbestände können solche Angriffe nur in einem monatlichen Rhythmus erfolgen, was deren Wirkung nochmals erheblich einschränkt. Zudem fehlen diese Waffensysteme dafür an den Frontlinien, wo sie schmerzlich benötigt werden. Nachdem es keine militärische Optionen auf einen Sieg im Ukrainekrieg gibt, versucht sich Russland stattdessen darin, den Status Quo aufrechtzuerhalten und Ukraine zu Verhandlungen zu zwingen. Die Wahrscheinlichkeiten dafür sind aber eher im niedrigen Segment anzusiedeln.

An der militärischen Front sieht es ähnlich pessimistisch aus. Der Schnee folgt auf die Rasputitza-Schlammzeit, welche für beide Seiten offensive Operationen deutlich erschwert hat. Im Winter hingegen ist der Boden fest, Truppenmanöver stellen kein ernsthaftes Problem mehr dar. Auch wenn die Jahreszeit als vorübergehende Pause zur Regeneration und Reorganisierung genutzt werden kann, haben beide Seiten ein Interesse daran zumindest kleinere Offensiven durchzuführen. Damit verbunden sind jedoch auch einige materielle Komplikationen, die besonders bei Russland zu tragen kommen. Seit Anbeginn des Krieges kämpft das Land nämlich mit effizienter Nachschubversorgung, welches sich nun intensiveren wird.

Im Gegensatz dazu wurden hunderttausende Winteruniformen etc. aus Skandinavien oder Kanada an die Ukraine geliefert, Tendenz steigend. Es tauchen immer wieder Videos auf, die russische Reservisten in freier Wildbahn ohne jegliche Versorgung oder Behausungen zeigt, welche stattdessen behelfsmäßig Gruben errichten oder aus Plastikfolien improvisierte Zelte bauen. Dies gepaart mit einer noch schlechteren Moral ist für die kommenden Monate wenig verheißungsvoll für die russische Armee. Erschwerend kommt hinzu, dass derzeit hunderttausende Soldaten von Russland ausgerüstet und trainiert werden müssen, mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen.

Insbesondere bei den bereits mehr als 80.000 Reservisten, welche offiziell bereits am Krieg teilnehmen, soll es erhebliche Verluste geben. Überlebende berichten davon, dass teilweise ganze Bataillone faktisch aufgelöst wurden, da die Rekruten nicht mehr als die Funktion des Kanonenfutters erfüllen. Dem ukrainischen Militär zufolge versuchen russische Einheiten, mit der Taktik der Menschenwelle ihre Verteidigungspositionen im Donbass zu überrennen, ohne Rücksicht auf die eigenen Verluste. Entsprechend hoch soll die Todeszahl sein, die es bei Gefechten um die Orte Bachmut oder Pawlowka gibt. Aber auch dieser Ressourcenpool ist endlich und parallel dazu verliert Russland den immer kleiner werdenden Fuhrpark an Militärfahrzeugen. Die Frage ist, ob Russland diese Taktiken auch über den Winter weiterführen wird, welche bisher nur sehr eingeschränkt Erfolg zeigten.

Auch wenn die durch den Fluss Dnepr markierte Frontlinie im südukrainischen Oblast Kherson ruhiger geworden ist, ist sie noch nicht vollständig verstummt. Ukrainische und russische Artillerieverbände haben inzwischen ihren Feuerwechsel über den Dnepr gestartet in der Hoffnung, den jeweils Anderen früher erfolgreich auszuschalten und somit die Feuerkraftdominanz zu gewinnen. Ukrainische Artillerie hat hier tendenziell den Vorteil, da sie eine höhere Reichweite besitzt und präziser ist, dank westlicher Waffenlieferungen. Russland hingegen könnte auf Luftunterstützung setzen. Nichtsdestotrotz sollen sich ein Großteil der russischen Einheiten mehrere Kilometer landeinwärts bewegt haben, um den künftigen Schaden der ukrainischen Artilleriesalven zu minimieren. Täglich werden Wohnhäuser in der Stadt Kherson durch Russland bombardiert.

Trotz dieser Umstände ist dort der Wiederaufbau in vollem Gange. Als erste Baumaßnahme wurde der örtliche Hauptbahnhof wieder in Betrieb genommen, am Samstag fuhr der erste Zug aus Kiew ein. Lokale Behörden warnen jedoch aufgrund der Umstände und der vorerst weiterhin zerstörten Infrastruktur vor einer Rückkehr, auch wenn einige Personen diesen Weg bereits gewählt haben. Mit der Wiederherstellung des lokalen Staats- und Kommunalapparates wird erst langsam die wahre Dimension der russischen Plünderungen vor der Flucht klar: In den städtischen Museen wurde alles geraubt, was nicht niet- und nagelfest war. Private Schließfächer in den Banken teilten das selbe Schicksal. Kiew hat bereits mehrere Krankenwagen nach Kherson geschickt, da dort sämtliche Ambulanzen und Feuerwehren gestohlen wurden.

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