
In der Südukraine brodelt die Gerüchteküche: Russische Behörden und Institutionen verlassen schlagartig die hart umkämpfte Hälfte der Region Kherson mit der namensgebenden Provinzhauptstadt, welche nördlich des Flusses Dnepr liegt. Nun fordern die russischen Besatzer auch die ukrainische Bevölkerung dazu auf, die Stadt innerhalb der nächsten 24 Stunden zu verlassen. Wahrscheinlich nicht zufällig beschuldigen sich währenddessen Russland und die Ukraine gegenseitig der Verschwörung, den Kachowka-Staudamm am Dnepr zu sprengen und somit einen großen Teil der Region Kherson zu überschwemmen. Diese Zuspitzung findet im Hintergrund einer ukrainischen Offensive im Süden statt, die zunehmend Geländegewinne verzeichnen kann. Aufgrund ihrer nachteilhaften Position könnte Russland nun dazu entschlossen sein, sich aus Kherson zurückzuziehen.
Die ukrainische Gegenoffensive zur Rückeroberung der Provinzhauptstadt ist wie in den Monaten zuvor auch weiterhin in vollem Gange, auch wenn sie in den letzten Wochen nur bedingt Bodengewinne verzeichnen konnte. Aktuell wurde ein Kommunikationsverbot von der ukrainischen Regierung verhängt, weswegen nur spärlich Informationen von der pro-ukrainischen Seite an die Außenwelt dringen. Dieses Vakuum wird dafür von der russischen Seite ausgenutzt, um sich mit ihren Verteidigungsmaßnahmen zu profilieren. Einige punktuelle Angriffe der Ukraine konnten in Nord-Kherson erfolgreich abgewehrt werden, insgesamt verlor die ukrainische Armee dabei etwa zehn Militärfahrzeuge. Das gibt tat jedoch den Jubelmeldungen keinen Abbruch, die ukrainische Operation bereits als gescheitert zu betrachten. Zum wiederholten Male.
Dem gegenüber stehen die Berichte darüber, dass sich Russland sukzessive aus den Gebieten nördlich des Dnepr zurückzieht. Angefangen hat es in den letzten Tagen mit der russischen Administration, welche ihre Büros und Hauptquartiere in Richtung der Krim verlegten. Inzwischen zogen russische Banken und Institutionen nach, in der Stadt und der Region ist der ukrainische Hrywnja wieder das Hauptzahlungsmittel, obwohl Russland seit Monaten unter Zwang versuchte, den Rubel einzuführen. Diese Flucht wird begleitet mit Plünderungen, auf der Prioritätenliste oben sind Elektronikprodukte oder z.B. die Fahrzeuge der lokalen Feuerwache und Polizeistation. Es gibt sogar Meldungen darüber, dass reguläre Supermärkte zumindest teilweise geleert werden.
Die lokalen Behörden riefen vor wenigen Tagen zur Flucht aus der Stadt auf, nun ist es Gesetz: Innerhalb der nächsten 24 Stunden soll sich die gesamte ukrainische Bevölkerung der Stadt an das andere Ufer des Dnepr begeben, wo Russland noch eine feste Kontrolle ausübt. Bei der pro-ukrainischen Bevölkerung trifft diese Forderung aber nur auf taube Ohren, weshalb bis auf den gewöhnlichen Berufsverkehr über den Fluss niemand das Angebot wahrgenommen hat. Auch russische Truppen sollen sich zurückgezogen haben oder durch mobilisierte Reservisten ausgetauscht werden, vor allem von Ost-Kherson bzw. der Region um die Stadt Berislaw. Dort konnte die Ukraine zuletzt vorrücken, wodurch die Stadt Nowa Kachowka und der damit verbundene Staudamm nur noch 40 Kilometer von ukrainischen Armeeverbänden liegt.
Dort gibt es gegenseitige Vorwürfe, wonach die jeweils andere Seite den Kachowka-Staudamm zerstören will. Laut der Ukraine wurden die dazugehörigen Anlagen durch Russland vermint, dem Kreml zufolge plant hingegen Kiew Raketenangriffe auf den Staudamm, um ihn zu zerstören. Für beide Länder ergeben sich bei einer solchen Tat Vor- und Nachteile, die potentiell tausende Tote fordern könnte: Die Ukraine würde damit final sämtliche Nachschubwege für das russische Militär nach Kherson zerstören, zudem befindet sich das südliche Ufer des Dnepr wesentlich niedriger. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass die russischen Positionen an Dnepr überschwemmt werden würden, während der Norden mit der Stadt Kherson vergleichsweise verschont werden würde. Außerdem würde damit die Wasserversorgung für die Krim gekappt werden, die über den Staudammkanal funktioniert.
Für Russland wiederum wäre nach dem derzeit andauernden Abzug ein verbreiteter Dnepr die perfekte Verteidigungsstellung. Die für die Ukraine neu eroberten Gebiete könnten damit schwer beschädigt werden, was ein weiterer Vorteil für Russland ist. Dazu ist es ein Machtbeweis und eine Drohung an die anderen besetzten Gebiete, denen ein ähnliches Schicksal bei weiteren Niederlagen ereilen könnte. Möglicherweise inszeniert Russland aber auch nur diesen Vorfall, um sich eine Legitimation für den Kherson-Abzug zu geben und auch die Bevölkerung entsprechend zu motivieren, es gleichzutun. Insgesamt aber würden für beide Länder die Nachteile überwiegen, weswegen die tatsächliche Zerstörung des Kachowka-Damms bisher sehr unwahrscheinlich erscheint.

In der sonstigen Süd- und Ostukraine gibt es kaum neue Berichte zu vermelden. Ukrainische Einheiten konnten die Kämpfer der Privatarmee Wagner bei Bachmut erfolgreich zurückdrängen und der Stadt damit im Südosten eine neue Pufferzone auferlegen können. Mit der Wiedereroberung des Industrieviertels und des Dorfes Sazjewe konnten damit ein Großteil der russischen Erfolge der letzten Wochen an der einzigen Front revidiert werden, an der Russland zumindest lokale Erfolge vermelden kann. Weiter nördlich zwischen Charkiw und Luhansk üben sich beide Fraktionen in Vorbereitungen und Konsolidierungen ihrer Streitkräfte. Die russischen Militäraktionen beschränken sich größtenteils auf den Einsatz von Marschflugkörpern und iranischen Drohnen, die bis tief in die Westukraine hinein die ukrainische Energieinfrastruktur schleifen.
Das Kalkül dahinter: Mit der Zerstörung der Infrastruktur soll der Verteidigungswille angesichts des kommenden Winters innerhalb der ukrainischen Bevölkerung geschmälert werden, die Fortsetzung des Krieges als eine närrische Tat entlarvt werden. Diese Militärschläge sind vom partiellen Erfolg gekrönt. Während die verursachten Schäden innerhalb weniger Stunden größtenteils behoben werden können, ist es die seit fast zwei Wochen andauernde Frequenz, die für Teile der Bevölkerung den langfristigen Zugang zu Strom und Wasser erschwert. Die Regierung hat nun angeordnet, den Elektrizitätskonsum um ein Viertel zu senken und damit das bestehende Stromnetz nicht zu überlasten.
An der militärischen Situation ändert sich dadurch hingegen nichts, desto fragwürdiger ist die Entscheidung, in der ganzen Ukraine beliebige zivile Ziele zu attackieren, wodurch die dort verwendeten Ressourcen nun an den Frontlinien fehlen. Die große Frage lautet dabei, über welchen Zeitraum Russland die gegenwärtige Kampagne aufrecht erhalten kann und welches Endziel verfolgt wird, insofern ein solches besteht. Der größte Faktor dabei sind die iranischen Lieferungen, welche nicht unendlich sind und vor allem ebenfalls für den eigenen Gebrauch und den jemenitischen Konflikt benötigt werden, welcher sich wieder zunehmend erhitzt. Nun könnten ebenfalls ballistische Raketen an Russland geliefert werden, welche diese Problematik zumindest temporär aufheben, aber nicht lösen würde.