
Es war wohl kein Geschenk, welches der russische Präsident Wladimir Putin zu seinem 70. Geburtstag erwartete: In der Nacht zum Samstag kam es zu einer riesigen Explosion in der östlichen Hälfte der Krim-Brücke, welche als einzige Landverbindung zwischen russischem Festland und der Halbinsel fungiert und dabei maßgeblich wichtig für die russische Militärversorgung in der Südukraine ist. Während man noch über die Ursache und Täter munkelt, könnte die Brücke die nächsten Monate funktionsunfähig sein. Die Brücke wurde in Folge der russischen Annexion der Krim nach jahrelangen intensiven Bauarbeiten errichtet und diente dabei als potentes Zeichen eines neuen Russlands unter Putin, welches nicht mehr wie in den Jahrzehnten nach dem Fall der Sowjetunion ein einfache Regionalmacht war, sondern in die Tradition einer eurasischen Hegemonie zurückkehren wollte. Genauso wie der Militärverlauf zeigt es symbolisch das Desaster, zu welchem sich der Ukrainekrieg entwickelt.
Kameraaufnahmen vor Ort zeigen, dass es in der östlichen Hälfte der Kertsch-Brücke zu einer riesigen Explosion gekommen ist, die eine Brückenhälfte für Kraftfahrzeuge über mehrere hundert Meter einstürzen ließ und die andere Hälfte beschädigte, das genaue Ausmaß der Schäden ist aber noch nicht gänzlich geklärt und bedarf einiger Wartezeit. Wesentlich bedeutsamer ist der angerichtete Schaden an der parallel dazu verlaufenen Eisenbahnbrücke, wo sich zum Zeitpunkt der Explosion ein voll beladener Zug mit Treibstofftanks befand. Durch die Explosion entflammte er umgehend und verursachte entsprechend schwere Schäden an der Eisenbahnbrücke, welche aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht zusammengebrochen ist.
Aus bisherigen Erfahrungen solcher Ereignisse könnte der Reparaturprozess lange Zeit dauern, gerade an einem Ort, welcher inmitten der Kertsch-Seestraße liegt und entsprechend schwer erreichbar ist. Der Straßensegment könnte relativ schnell jedoch hergestellt werden, sodass ein einspuriger Verkehr in beide Richtungen möglicherweise innerhalb weniger Tage wieder erreicht werden könnte. Der Bau der Krimbrücke selber war ein monumentales Unterfangen, welches Unsummen an Geld (umgerechnet 3,7 Milliarden Euro) und Zeit (zwei Jahre) beanspruchte. Zudem kam immer wieder Kritik auf, dass die Errichtung aufgrund seiner Bedeutung weniger Rücksicht auf Sicherheitsmaßnahmen genommen wurde, um möglichst schnell ein möglichst erfolgreich aussehendes Projekt auf die Beine gestellt zu haben. Diese Befürchtungen scheinen sich nun indirekt bewahrheitet zu haben.
Russische Behörden beschwichtigen damit, dass die Brücke in wenigen Tagen wieder repariert ist und russische Bewohner auf der Krim sich keine Sorgen machen müssen, wo derzeit Panikkäufe stattfinden. Diese gehen zudem davon aus, dass die Explosion durch einen ukrainischen Selbstmordattentäter verursacht wurde, welcher einen mit Sprengstoff beladenden LKW zum Ort des Geschehens fuhr und dort detonieren ließ. Als Beweisführung dafür dienen die Videoaufnahmen, welche einen LKW zu jenem Zeitpunkt an jenem Ort der Explosion zeigen. Zuvor brüstete sich Russland seit Jahren damit, welch komplexe und mehrschichtiges Verteidigungssystem die Krim-Brücke besitzt, darunter eigene Satelliten, Luftabwehrsysteme, Militärtaucher und Delfine. Darunter befinden sich auch Fahrzeugscanner, welche Transporter nach Sprengstoffen durchsuchen, auch so geschehen beim vermeintlichen Täter.
Aufgrund dessen erscheint diese Darstellung nur bedingt der Fall zu sein, auch weil es keine weiteren Indikatoren für diese Geschichte gibt. Auf ukrainischer Seite scheint derzeit die Theorie am beliebtesten, dass ein unbemanntes Boot oder eigens dafür konstruierte „Bootdrohne“ (USV) benutzt wurde, um den Angriff zu verursachen. Auf den Kameraaufnahmen der Brücke sind merkwürdige Wellen zu sehen, welche sich kurz vor der Detonation bildeten, zudem wurde vor kurzem erst an der Krimküste eine solche „Drohne“ gefunden, welches mit Sprengstoff beladen war und wohl russische Kriegsschiffe verfolgte. Diese sind bisher unbekannt gewesen und sollen von der Ukraine (möglicherweise mit internationalen Know-How) selbst konstruiert sein, andere Berichte sprechen von us-amerikanischer Produktion. Diese Boote sind nicht größer als ein Paddelboot und werden über lange Reichweiten extern gesteuert. Ob eine solche Waffe ausreichend Sprengkraft für die Zerstörung der Krimbrücke transportieren kann, ist aber unklar.
Bisher existieren für alle bestehenden Gerüchte und Darstellungen unzureichende Beweise, was sich aber in der Zukunft ändern könnte. Fest steht zumindest, dass alle Seiten und Fraktionen davon überzeugt sind, dass die Ukraine in welcher Art auch immer die Täter sind. Überraschend wäre das aus mannigfaltigen Gründen nicht. Die fast 20 Kilometer lange Krimbrücke galt lange Zeit als das prestigeträchtigste Ziel ukrainischer Angriffe. Man ging jedoch davon aus, dass die Kertsch-Brücke erst in Folge amerikanischer Waffenlieferungen in Form der für die amerikanischen Raketenwerfer HIMARS bestimmten ATACMS-Raketen erfolgen könnte, welche eine Reichweite von 300 Kilometer besitzen. Bisherige ukrainische Systeme reichten dafür nicht aus und die USA stemmt sich auch weiterhin gegen solche Pläne, zumindest offiziell. Umso überraschender ist diese Operation, wohl auch für Russland selbst.
Denn auf der Krim scheint es keinerlei Vorbereitungen für einen solchen Fall gegeben zu haben. Der vor der Brückenkonstruktion bestehende Fährenbetrieb wurde außer Dienst gestellt, die dazugehörigen Fähren sollen entweder im Ukrainekrieg eingesetzt und zum Teil zerstört worden sein, oder befinden sich anderorts in Russland. Lokale Behörden sprechen von 15-tägigen Reserven für den regulären Treibstoffkonsum, was angesichts der derzeitigen Panikkäufe und Warteschlagen vor den Tankstellen eher unzureichend erscheint. Insbesondere die Beschädigung des Schienennetztes ist für die russische Militäroperation ein schwerer Schlag. Die russischen Streitkräfte sind als Relikt aus der sowjetischen Militärdoktrin stark abhängig von Eisenbahnsystemen als Drehkreuz der Logistik. Diese Versorgungsbasis fällt nun in der Südukraine weg, wo russische Truppen bereits in der letzten Woche tausende Quadratkilometer an Boden verloren.
Effektiv existiert damit nur noch eine Eisenbahnverbindung, welche durch den Donbass, Melitopol im Süden und bis nach Nowa Kachowka reicht. Allesamt Regionen, in denen ukrainische Partisanen äußerst aktiv sind und regelmäßige Sabotageakte durchführen, insbesondere an den Bahnschienen. Alle anderen Regionen, darunter das ohnehin nur durch Fähren erreichbare Kherson, die südliche und westliche Hälfte des gleichnamigen Oblasts und die Krim selber sind in dem Sinne von der „Außenwelt“ abgeschnitten. Damit werden sich die bestehenden Probleme der russischen Logistik nur intensivieren in einer Region, die ohnehin am schwersten von dieser Problematik betroffen ist.
Doch das könnte noch nicht das Ende sein. Es verstärken sich die Meldungen auf pro-russischer und -ukrainischer Seite, dass Kiew mehrere Einheiten in der südlichen Region Saporischschja zusammenzieht, um dort eine dritte und somit finale Front für die Südukraine zu eröffnen. Wenn sich dies bestätigt und die Ukraine in Saporischschja in Richtung Asowschen Meer und z.B. dem derzeit 80 Kilometer von der Front entfernten Stadt Melitopol vorrückt, könnte auch diese letzte Land- und Bahnverbindung erfolgreich gekappt werden. Die Konsequenzen dafür würden verheerend sein und Russland dazu gezwungen werden, einen Großteil der Südukraine zu verlassen. Sogar die Halbinsel Krim rückt damit in das Fadenkreuz potentieller Operationen. Russland drohte mehrfach mit Vergeltungsschlägen, sollte die Krimbrücke attackiert werden, darunter auch in Form vom Einsatz von Atomwaffen. Bisher bewahrheiteten sich diese Drohungen nie, was sich wohl auch diesmal nicht ändern wird.