Russische Annexion wird wenig ändern

In diesem Moment finden die finalen Vorbereitungen für die Annexion der süd- und ostukrainischen Gebiete Kherson, Saporischschja, Luhansk und Donezk im Kreml statt, in Folge eines in jeglicher Hinsicht fragwürdigen Referendums mit ebenso fragwürdigen Ergebnissen. Viele, insbesondere pro-russische Analysten und Medien, sehen mit dem Anschluss der neuen Gebiete eine Kehrtwende im Ukrainekrieg, denn es könnte das Ende der „Spezialoperation“ und den Beginn einer offiziellen Kriegserklärung bedeuten. In Wirklichkeit jedoch wird sich wenig ändern: Die ukrainischen Militäroffensiven wie derzeit in Richtung Luhansk sind in vollem Gange und können beachtliche Erfolge vorweisen, Russland befindet sich bereits im aktiven Kriegszustand und ist seit Monaten immer wieder Angriffen und Anschlägen auf ihren Kernterritorien ausgesetzt. Die Ukraine soll bereits als Reaktion den Gegenschlag planen.

Die Mobilisierung von Hunderttausenden bis Millionen Wehrpflichtigen ist in Russland in vollem Gange. Gerüchten zufolge soll ein größerer Teil der Mobilisierten in Belarus stationiert werden, die Zahl reicht bis zu 100.000 Soldaten. Wenn dies stimmt, ergeben sich zwei Optionen: Entweder Russland möchte mit einer verstärkten Truppenpräsenz entlang der gesamten ukrainisch-russisch-belarusischen Grenze die Bedrohungsgefahr erhöhen und damit auch ukrainische Einheiten an ruhige Fronten bzw. Grenzgebiete binden, oder man könnte zum erneuten Male einen Angriff auf Kiew und den Norden der Ukraine planen, wohl in der Hoffnung, dass es diesmal erfolgreicher sein wird. Möglicherweise werden auch russische Reservisten nach Belarus geschickt, um dort trainiert zu werden. Immerhin befinden sich dort noch intakte Trainingsstrukturen. Es bräuchte insgesamt aber mehr Beweise über die vermehrte russische Präsenz in Belarus.

Derweil nimmt die ukrainische Offensive auf die letzten, von russischen Kräften kontrollierten Gebiete im „Provinzdreieck“ zwischen Charkiw, Luhansk und Donezk weiter an Fahrt auf. Die natürliche Verteidigungsbarriere des Oskil-Flusses und des gleichnamigen Stausees wurde an mehreren Punkten übertreten, sprich die ukrainische Armee hat mehrere Brückenköpfe entlang der in Zuge der erfolgreichen Charkiw-Offensive neu entstandenen Frontlinie errichtet. So wurde bei dem Verkehrsknotenpunkt Kupjansk eine mehrere Kilometer lange Pufferzone errichtet, die als Basis auf eine zukünftige Offensive auf die Stadt Swatowe dienen soll. Neben Kupjansk ist Swatowe die einzige Stadt im Nordosten der Ukraine, die über ein zentrales Schienensystem mit Verbindung zu Russland verfügt. Dieses wird von Russland als primäre Nachschubroute genutzt, weshalb dessen Eroberung wichtig wäre. Zudem würde Kiew damit wieder eine Stadt in Luhansk kontrollieren.

Das Gros der ukrainischen Offensive wird aber weiter südlich bei Lyman durchgeführt, welches unbestätigten Berichten zufolge bereits erfolgreich eingekreist wurde. Es wäre die erste größere Kesselschlacht neben Mariupol in diesem Kriege, sollte sich diese Meldungen bewahrheiten. Fest steht, dass die Ukraine von allen Seiten Druck auf die Stadt ausübt und fast sämtlich umliegende Orte kontrollieren soll, von Jampil im Südosten über Drobyschewe im Westen oder Kolodjasi im Norden. Einzig über Saritschne im Osten könnte eine Verbindung zur Außenwelt bestehen, welche aber ebenfalls von den Flanken unter Feuerkontrolle stehen soll. Dies wäre eine entscheidender zweiter Sieg für die Ukraine, nach den überraschenden Erfolgen im restlichen Charkiw-Raum, und könnte damit das Tor in Richtung dem Oblast Luhansk öffnen.

Also in jene Gebiete, die zumindest einseitig von Russland in den kommenden Tagen annektiert und als Bestandteil der Russischen Föderation integriert werden. Entgegen offizieller und medialer Verlautbarungen handelt es sich dabei um einen nahezu rein symbolischen Schritt. Die Ukraine wird weiter unentwegt ihre Operationen zur Rückeroberung durchführen, während Russland sich bereits faktisch in einem Kriegsstatus befindet, die Ausrufung eines offiziellen Krieges auf Basis der vermeintlichen Landesverteidigung also wenig an der gegenwärtigen Situation in Zeiten einer Mobilmachung ändern wird. Einzig möglich wäre die Rekrutierung und Einberufung von Reservisten bzw. Wehrpflichtigen in den besetzten Territorien und zumindest eine juristische Basis für den Einsatz von Atomwaffen. Eine solche Entwicklung würde Russland aber in die vollständige Isolation treiben und die Regierung außerdem keine rechtliche Legitimation dafür benötigt, Kernwaffen einzusetzen.

Parallel zur Ankündigung der russischen Annexion der ukrainischen Oblaste Kherson, Saporischschja, Luhansk und Donezk plant der ukrainische Sicherheitsrat unter Führung der Regierung und des Verteidigungsministeriums ein Treffen, welches bereits als „kriegsentscheidend“ angekündigt wurde. Demnach sollen dort Entscheidungen getroffen werden, die das Ende des Ukrainekrieges näher rücken lassen und auf eine schnellstmögliche Wiederherstellung der international anerkannten Grenzen der Ukraine hinarbeiten. Möglicherweise werden dort Reaktionen auf die russische Mobilmachung oder die Annexion der ukrainischen Territorien besprochen, bisher gibt es keine näheren Details und vielmehr wäre reine Spekulation. Es bleibt abzuwarten, wie Kiew auf die neuesten Eskalationsschritte Russlands reagieren wird.

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