Teilmobilmachung nur im Namen

Als die russische Regierung diese Woche eine neue Eskalationsstufe im Ukrainekrieg verkündete und eine Teilmobilisierung verlautbaren ließ, standen vor allem Beschwichtigungen im Mittelpunkt. Dem russischen Verteidigungsminister Sergei Schoigu zufolge werde nur ein Prozent der wehrpflichtigen Bevölkerung eingezogen und dann auch nur jene, welche bereits über moderne und aktuelle Militärerfahrungen oder Spezialisierungen in diesem Bereich besitzen. Diese offizielle Darstellung bekam aber bereits nach den ersten 24 Stunden Risse, denn in allen Himmelsrichtungen Russlands gibt es Meldungen von schwerkranken Rentnern, die eine Mobilisierungsmitteilung erhalten haben oder von Dörfern ethnischer Minderheiten, wo die gesamte männliche Bevölkerung in den Kriegsdienst gerufen wurde. Diese und viele weitere Fälle verstärken den Verdacht, dass es sich in Wirklichkeit um eine vollständige Mobilisierung und das Ultima Ratio des russischen Staates handelt, doch noch den Krieg drehen zu können.

Das Ausmaß der Mobilisierung liegt derzeit noch im dunkeln, jedoch verdichten sich immer mehr Indikatoren, dass ein großer Teil davon nur bedingt planmäßig und erst recht nicht militärisch erfolgreich verläuft. Einerseits gibt es Einzelschicksale wie jenes von Alexander Jermolajew, ein 63-jähriger ehemaliger Oberstleutnant, welcher in Folge von Diabetes und zerebraler Ischämie pensioniert wurde, nun aber an die Front zurückkehren soll. Oder der 32-jährige Viktor Bugrejew, ein IT-Mitarbeiter der Sberbank, welcher ohne jeglicher Militärerfahrung zum Kriegsdienst gerufen wurde.

Diese beiden Fälle konnten dank der öffentlich generierten Aufmerksamkeit von einem Militäreinsatz bewahrt werden. Dabei wird es sich aber nicht um Ausnahmen handeln, die Dunkelziffer solcher Schicksale wird um ein vielfaches höher liegen, die nicht rechtzeitig öffentliches Interesse erreichen konnten. Andererseits gibt es auch Geschichten wie aus dem Oblast Buratjatien in Sibirien, die Heimat der namensgebenden Minderheit der Burjaten. Dort wurden im Dorf Petropavlovka alle 60 Männer in die Reserve aufgenommen, obwohl die Region bereits in den letzten sieben Monaten des Ukrainekrieges eine wesentlich höhere Anzahl an Soldaten bereitstellte und es fernab jeglichen Verhältnisses liegt, lediglich ein Prozent rekrutieren zu wollen.

Hinter alledem stecken wohl die theoretischen Pläne der Mobilisierung, die mit der Praxis eines von Korruption und Unterfinanzierung zerfressenden Bürokratieapparates konfrontiert werden. Die Mobilisierung wurde den kommunalen und regionalen Behörden überlassen, weshalb diese den Weg des geringsten und einfachsten Widerstandes wählten: Statt nach Qualifikation und Wehrfähigkeit zu kategorisieren, wurden stattdessen einfach eine Prozedur genommen, wo möglichst wenig Arbeit vonnöten war und einfach nach dem alten Prinzip der sowjetischen „Quoten- und Planerfüllung“ verfahren wird. Das erklärt, weshalb vereinzelte Orte eine derart schwere und ungleiche Last tragen müssen, oder auch Unternehmen mit hohen Männeranteil eine hohe Reservistenliste besitzen. Bei der Zwesda-Schiffswerft wurden kurzerhand deswegen 80% des Personals in den Wehrdienst berufen, obwohl sie sogar in einem kritischen Bereich der Militärinfrastruktur tätig sind, welche explizit von der Mobilmachung ausgeschlossen wurden. Solche Berichte tauchen immer öfters in den sozialen Medien Russlands auf.

Erst wenige Tage nach der offiziellen Verlautbarung wurden die neuesten Gesetzgebungen im Zusammenhang mit der Mobilmachung öffentlich, auch wenn ein Dekret weiterhin geheim gehalten wird. Angeblich soll dieses mysteriöse Dekret die genaue Anzahl an mobilisierten Soldaten spezifizieren, die von Russland jederzeit rekrutiert werden können. Demnach können jederzeit bis zu eine Millionen Reservisten einberufen werden, zumindest in der Theorie. Die russische Agentur Medusa meldet sogar, dass das Innenministerium sich auf 1,2 Millionen Rekruten bereit macht, die vierfache Menge der offiziell kommunizierten 300.000. Weitere Verschärfungen betreffen Deserteure und Fahnenflüchtige, welche mit bis zu zehn Jahren Haft verurteilt werden könnten. Für schweren Unmut sorgt besonders die Ankündigung, dass bereits aktive Freiwillige ihren Dienst auf unbestimmte Zeit verlängern müssen, obwohl sie ursprünglich nur Verträge mit sechsmonatiger Dauer unterzeichnet haben.

Für die in der Ukraine stationierten Soldaten war die Aussicht auf ein baldiges Ende ihrer Einsätze stets ein Hoffnungsschimmer, welcher nun erlischt ist. Immer wieder versuchten Soldaten auf verschiedenen Wegen, ihren Auslandseinsatz zu verkürzen, was ihnen rein rechtlich auch zusteht. Da das russische Militär aber mit einem enormen Personalmangel zu kämpfen hat, wurde dies nur schwerstmöglich erlaubt. Letzten Endes führte es oft dazu, dass sich Personen ein Arm oder Bein gebrochen haben, um dadurch suspendiert zu werden. Diese Entwicklung führte bereits in der russischen Grenzstadt Belgorod dazu, dass ein bewaffneter Soldat der 25. Brigade mithilfe eines Militärfahrzeuges die Flucht ergriff und seitdem als verschollen gilt. Derartige Ereignisse werden in der Zukunft wohl zunehmen. Wehrpflichtige werden diese Löcher nicht stopfen können, da es ihnen an der nötigen Moral, Ausbildung oder Bewaffnung fehlt.

Bisher gibt es auch keine Zeichen dafür, dass diese Faktoren durch ein Trainingsprogramm geschmälert: Überall gibt es Videos, die betrunkene Wehrpflichtige zeigen, die keinerlei Respekt gegenüber vermeintlichen Vorgesetzten zeigen und stattdessen ihre Meinung über die Zwangsrekrutierung kundtun. Ausgerüstet werden sie dann wie im Falle des Ausbildungszentrums in der Stadt Primorsky Krai am Pazifik mit vollkommen durchrosteten Gewehren. Anderswo gibt es nicht genug Fahrzeuge und Behausungen, weshalb im Freien marschiert und übernachtet werden muss. Das Training soll teilweise nur zwei Wochen andauern, regulär wären es mindestens drei bis vier Monate. Von Begeisterung oder einem Hurra-Patriotismus fehlt jede Spur. Unter diesen Umständen ist es nur unwahrscheinlich, dass Hunderttausende Wehrpflichtige auch nur den ersten Feindeskontakt als organisierte Streitkraft entgegentreten könnten.

Größere Aufmerksamkeit erhalten derzeit die Kundgebungen in den zwei Großstädten St. Petersburg und Moskau, die sich gegen die vermeintliche Teilmobilisierung richten. Jedoch auch aufgrund dieses Interesses werden diese Proteste brutal niedergeschlagen. Festgenommene Demonstranten wurden kurz darauf in den Militärdienst zwangsrekrutiert, um wohl präventiv jegliche Opposition zu eliminieren. Selbst der Kreml bestätigt diesen Bericht, welcher laut den eigenen Gesetzen im Zusammenhang der Mobilmachung rechtens ist. Das widerspricht aber dem offiziellen Narrativ, wonach nur Personen mit Kriegserfahrung eingezogen werden. Kriegsgegner und Pazifisten fallen wohl im unwahrscheinlichsten Fall in diese Kategorie, welches wohl auch im Militäreinsatz eine eher negative Auswirkung auf die moralische Gesamtverfassung nehmen wird.

Derartige Vorfälle gibt es zuhauf. In den Großstädten sollten ebenfalls Staatsbürger anderer Länder rekrutiert werden, so geschehen mit Einwohnern aus Zentralasien oder China. Erst durch die Intervention der Heimatstaaten konnte schlimmeres verhindert werden. Kirgisistan drohte mit mehrjährigen Haftstrafen, sollte man sich dem russischen Militär freiwillig anschließen. Doch auch fernab der urbanen Zentren gibt es Meldungen von Protesten. Besonders in den ärmeren Provinzen, welche bereits bisher überdurchschnittlich viel Militärpersonal bereitstellten, regt sich Widerstand. Schwerpunkt dabei ist die kaukasische Region Dagestan, wo es an mehreren Orten zu Demonstrationen kam, aktuell auch in der Hauptstadt Machatschkala. Im Dorf Endirei setzte die Polizei Schusswaffen ein, um der Lage Herr zu werden. Im sibirischen Jakutsk gingen Hunderte Frauen auf die Straße, um gegen den Kriegseinsatz ihrer Söhne, Männer und Väter zu protestieren.

Wer seine Opposition nicht durch seine Stimme kundtut, tut es stattdessen mit den Füßen. An den Grenzübergängen zu Georgien, Kasachstan und zur Mongolei bilden sich kilometerlange Schlangen, um möglicherweise noch das letzte Zeitfenster zur Flucht zu nutzen. Gerüchten zufolge soll Russland ab Ende September eine Ausreisesperre für alle Männer im wehrfähigen Alter verhängen. Faktisch könnte es bereits jetzt schon der Fall sein, da zuhauf Menschen in dieser Kategorie die Ausreise verwehrt wurde. Dies ist bisher das stärkste Signal dafür, dass es sich nicht nur um eine bloße Teilmobilmachung handelt. Zu Georgien beispielsweise müssen Personen über 24 Stunden warten, um am Grenzposten selbst anzukommen. Trotzdem ist es im Vergleich zur russischen Bevölkerung nur ein marginaler Teil, welcher die momentan vorhandene Chance nutzt. Ähnlich verhält es sich bei der Anzahl derjenigen, die aktuell auf die Straße gehen. Bevor die ersten Todesmeldungen die Heimatdörfer erreichen, wird sich wohl wenig ändern.

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