
8.000 Quadratkilometer erobert, über 700 Militärfahrzeuge erbeutet und dutzende russische Soldaten gefangengenommen: Die ukrainische Operation im nordöstlichen Oblast Charkiw innerhalb einer Woche war ein voller Erfolg. Nach einer kurzen Phase der Konsolidierung scheinen die ukrainischen Streitkräfte aber an den neu errichteten Frontlinien keinen Halt machen zu wollen, sondern stattdessen noch weiter in Richtung Osten vorzudringen und neben der Krim die einzige Provinz, welche sich vollständig unter (pro-)russischer Kontrolle befindet, wiedererobern zu wollen. Mit dem ukrainischen Sieg im Kampf um die Initiative wird es in den kommenden Monaten wohl auch anderswo im Land zu neuen Gegenoffensiven kommen.
Nach der erfolgreichen Charkiw-Offensive der ukrainischen Streitkräfte kündigte Russland den nahezu vollständigen Rückzug aus dem Oblast an, unter der offiziellen Verlautbarung, eine „taktische Regruppierung und -organisation“ durchgeführt zu haben. Die Tatsachen am Boden sprechen aber eine andere Sprache: Bei der gesamten Operation wurden mindestens 760 russische Militärfahrzeuge eliminiert, ungefähr die Hälfte davon konnte in einem nutzbaren Zustand erbeutet werden. Gerade in Izium und Umgebung wurden Unmengen an Kriegsgerät geborgen, von etwa ein dutzend Artilleriehaubitzen, hunderten Schützenpanzern oder einfachen Munitionslagern gibt es Beweise.
Wesentlich unklarer ist die Anzahl an Kriegsgefangenen, wovon es keine offiziellen Angaben gibt. Entsprechend vorhandener Videos und Bilder kann man aber mindestens von 50 bis 100 russischen Soldaten sprechen, die gefangen genommen wurden. Dieser Prozess hält auch weiterhin an, viele einfache Kämpfer wurden von ihren Kommandozentren aufgrund des überhasteten Rückzuges in Stich gelassen und sind in kleinen Dörfern in Charkiw gestrandet. Der Abzug von den Grenzgebieten ist ebenfalls ein herber Schlag für Russland, welcher von der Ukraine angeblich direkt ausgenutzt wurde: Angrenzende Städte und die der russischen Provinz ihren Namen gebenden Ort Belgorod sind vereinzelten Artillerieangriffen ausgesetzt, da sie sich nur wenige Kilometer vom ukrainischen Territorium entfernt befinden.
Aktuell rückt die ukrainische Armee an zwei Punkten im Nordosten des Landes vor. Einerseits über den Verkehrsknotenpunkt Kupjansk, welcher das primäre Eroberungsziel der letzten Charkiw-Offensive war. Die Stadt wird aber durch den Fluss Oskil zweigeteilt, zusammen mit dem gleichnamigen Stausee bilden diese zwei Wasserwege die neue natürliche Frontlinie zwischen ukrainischen und russischen Soldaten. Gestern jedoch wurde auch der Ostteil von Kupjansk von der Ukraine gesichert, wodurch sie nun auch am östlichen Ufer einen Brückenkopf etabliert haben. Gemessen daran, dass das Areal dort in der ersten Kriegswoche von Russland eingenommen und seitdem weit entfernt von den umkämpften Gebieten lag, werden sich hier nur wenige Verteidigungslinien befinden. Zudem gab es während der Charkiw-Offensive vermehrt Berichte, wonach pro-russische Kämpfer dieses Gebiet weiträumig flohen, sogar bis zu der 50 Kilometer von Kupjansk entfernt gelegenen Stadt Swatowe. Deswegen ist davon auszugehen, dass ukrainische Einheiten nach der erfolgreichen Überquerung des Oskil-Flusses vorerst auf wenig Widerstand stoßen werden, wodurch in naher Zukunft der gesamte Oblast Charkiw wieder unter ukrainischer Kontrolle stehen würde.

Im Kontrast dazu stehen die andauernden Gefechte weiter südlich, an der Schnittstelle zwischen den Oblasten Charkiw und Donezk. Dort konnten ukrainische Einheiten den Donets-Fluss bereits an mehreren Punkten bzw. entlang weiter Teile der Frontlinie überqueren und Anrainerdörfer sichern. Dabei stoßen sie aber auf erbitterten Widerstand pro-russischer Einheiten, vor allem Kämpfern der Luhansker Volksrepublik und der 90. Panzerbrigade der russischen Armee, eine der wenigen vollständigen Formationen innerhalb der russischen Reihen. Diese verteidigen seit einer Woche die Stadt Lyman, welches für die Ukraine das ideale Sprungbrett für weitere Offensive in Richtung des Oblast Luhansk im Osten und Norden darstellen würde. Zuletzt konnten ukrainische Einheiten die umliegenden Orte Schurowe, Ozerne, Dibrova Swjatohirsk und Sosnowe sichern, es sind nur noch etwa ein Kilometer bis nach Lyman.
Die restlichen Frontlinien in der Süd- und Ostukraine sind weniger von solch schlagartigen Veränderungen geprägt. Die ukrainische Armee konnte einige Kilometer in Richtung Lyssychansk in Luhansk gutmachen und steht nur wenige Kilometer von der Großstadt entfernt. Derzeit sollen sich die Raffinerieanlagen bereits unter ukrainischer Kontrolle befinden, welche etwa neun Kilometer von der Stadt entfernt liegen. Damit ist bestätigt, dass die Ukraine wieder eine Präsenz im Oblast Luhansk unterhält, wenn auch nur marginal. Bei Donezk befindet sich das einzige Gebiet, in dem Russland unter großem Aufwand noch vorrücken kann. Südlich von Bachmut konnten russische Brigaden, unterstützt von Wagner-Söldnern und tschetschenischen Milizen, innerhalb eines Monats zwei Dörfer erobern und an die Stadtgrenze von Bachmut heranrücken. Die Einnahme dieser größeren Stadt ist aber äußerst unwahrscheinlich, da dafür einfach die nötigen Kräfte auf russischer Seite fehlen.
Die ukrainische Gegenoffensive in Kherson dauert weiterhin an, ist aber von einer wesentlich langsameren Geschwindigkeit geprägt. Dem ukrainischen Generalstab zufolge konnte man bisher 500 Quadratkilometer zurückerobern und etwa ein dutzend Dörfer sichern. Weshalb die Ukraine hier nicht derartige Fortschritte wie in Charkiw vorweisen kann ist grundsätzlich auf zwei Ursachen zurückzuführen: Erstens befinden sich in der Südukraine ein Großteil der russische Kräfte, welche anderorts entbehrlich waren. In Erwartung an eine südukrainische Offensive zog Russland dort seine mobilen Einheiten zusammen, welche nun eine aktive Verteidigung durchführen und es dem Angreifer entsprechend schwer machen. Zweitens ist eine große Machtkonzentration in Kherson zum Vorteil für Kiew, denn effektiv werden die russischen Truppen nördlich des Dnepr nur über Fähren versorgt, welche einfach zu überwachen sind und ebenso die russische Logistik unter Druck setzen.
Wenn die restlichen Frontlinien ebenso schwach besetzt sind wie jene in Charkiw, dann wird Russland früher oder später dazu gezwungen, die überschüssigen Kräfte aus Kherson abzuziehen und stattdessen Verteidigungsstellungen zu verstärken, die möglicherweise von einer neuen ukrainischen Offensive betroffen sein könnten. Gerüchteweise soll die Ukraine deswegen auch eine neue Operation im südukrainischen Oblast Saporischschja planen, wo sie potentiell entweder nach Melitopol oder Mariupol vordringen könnten, was das russische Gebiet zweiteilen würde, die russische Versorgung im Süden könnte dann nur noch über die Krim erfolgen. Wahrscheinlich setzt die Ukraine auf ein solches Szenario, was letzten Endes zu einem Rückzug der russischen Armee in den Gebieten nördlich des Dnepr führen würde, Kiew selber also weniger Verluste für dessen Manöver aufbringen müsste. Kurzum: Für die ukrainischen Einheiten ist der Status Quo in der Südukraine gerade angenehm.