Ukraine startet zweite Gegenoffensive mit Erfolg

Der September scheint bisher der erfolgreichste Kriegsmonat für die Ukraine zu werden: Nicht nur können die ukrainischen Streitkräfte neue Geländegewinne in der seit einer langen Zeit erwarteten Bodenoffensive im Süden des Landes erzielen, sondern nun auch überraschend eine zweite Militäroperation im nördlich gelegenen Oblast Charkiw starten, die innerhalb der ersten 24 Stunden bereits beachtliche Erfolge verzeichnen kann. Innerhalb den sozialen Medien pro-russischer Akteure herrscht geradezu eine apokalyptische Stimmung, wie das mehrfach für besiegt und zerstört erklärte Militär der Ukraine ein derart erfolgreiches Manöver starten und weiterhin durchführen konnte, an dessen Ende mehrere Ortschaften überrannt und einige russische Soldaten sogar eingekesselt werden konnten. Derzeit scheinen die parallel zueinander verlaufenden Gegenoffensiven der Ukraine nur an Fahrt aufzunehmen.

Nur die Wenigsten haben mit einer weiteren Offensive von Seiten der Ukraine gerechnet, gerade im nordöstlichen Oblast Charkiw. Dort kam es seit Monaten zu keinen nennenswerten Gebietsveränderungen, einzig südlich der Stadt Izium konnten ukrainische Einheiten unter großem Aufwand Dorf für Dorf wiedererobern und russische Kräfte damit sukzessive zurückdrängen. Der neueste Vorstoß wurde aber weiter nordwestlich von Izium gestartet, an einer ansonsten stillen Front. Es gab zwar Wochen zuvor Berichte von ukrainischen Truppenbewegungen in der Region, welche aber auf russischer Seite offenbar keinen Anlass für Reaktionen gab. Denn innerhalb des ersten Tages der Offensive konnte man mehrere Ortschaften sichern, darunter die entlang der T-21-Straße gelegenen Dörfer Yakovenkove und Volokhiv Yar und dutzende kleine Siedlungen, die aber wohl zuvor Niemandsland waren und von Russland ohne Gefechte aufgegeben wurden. Der größte Gewinn ist jedoch die einst 30.000 Einwohner zählende Stadt Balakliya, die zwar noch nominal unter russischer Kontrolle steht, alle Ein- und Ausgänge aber von der Ukraine blockiert werden.

Russische Beobachter melden, dass sich in Balakliya noch mehrere Spezialeinheiten des russischen Militärgeheimdienstes befinden, die dort erbitterten Widerstand leisten. Die restlichen russischen Truppen, vor allem Zwangsrekrutierte aus der ostukrainischen Volksrepublik Luhansk, sollen sich schon lange zurückgezogen haben. Insofern Balakliya nicht bereits vollständig unter ukrainischer Kontrolle steht, so ist es wohl nur eine Frage von Stunden oder wenigen Tagen, bis die eingekesselten Truppen kapitulieren müssen oder getötet werden. Derweil nutzen ukrainische Einheiten den Durchbruch in den feindlichen Verteidigungslinien aus, um weiter nördlich vorzudringen. Erstes Ziel ist es wohl, die Gunst der Stunde zu nutzen und die etwa elf Kilometer nördlich von Volokhiv Yar gelegene Stadt und Eisenbahnkreuz Schewtschenkowe zu erobern.

Schewtschenkowe liegt auf direktem Wege zwischen der Millionenstadt Charkiw und dem seit März von Russland kontrollierten Ort Kupjansk, welche von einigen Beobachtern als das primäre Ziel der gegenwärtigen Gegenoffensive identifiziert wird. Dafür wäre aber ein immenser Kräfteaufwand nötig, alleine von Schewtschenkowe aus sind es 40 Kilometer bis zu den westlichen Toren dieser mittelgroßen Stadt, welche zudem durch einen Fluss getrennt ist. Die Wiedereroberung von Kupjansk würde aber bedeuten, russische Streitkräfte nahezu vollständig aus dem Oblast Charkiw zu vertreiben und somit eine bis dato ungeschützte Front in Richtung der ostukrainischen Provinz Luhansk zu eröffnen, welche derzeit vollständig unter russischer Kontrolle steht. Kurzfristig wahrscheinlicher ist eher ein Vorstoß in Richtung Südosten, wo sich die Nachschubwege nach Izium befinden. Dort kommt es seit jeher zu schweren Gefechten, ukrainische Einheiten stehen südlich der Stadt nur noch etwa zehn Kilometer von Izium entfernt, können Boden aber nur unter großem Aufwand gutmachen. Die Versorgungslinien zu durchtrennen oder einfach zu bedrohen würde das russische Militär in Izium in einen Zugzwang versetzen, sich entweder zurückzuziehen oder von der Außenwelt abgeschnitten zu werden.

Für die russische Armee ergeben sich durch die ukrainische Offensivoperation enorme Probleme für die nähere Zukunft vor Ort. Die Situation in Balakliya offenbart, dass nur unzureichende und vor allem kaum qualifizierte Kräfte die eher ruhigen und von sekundärer Priorität geprägten Frontabschnitte bewachen. Russische Analysten behaupten, dass es vor Ort kaum schweres Kriegsgerät zur Verwendung gab und selbst wenn, die dort stationierten Einheiten kaum Training im Umgang damit haben. Auch die Luft- und Artillerieunterstützung soll kaum im Einsatz gewesen, vor allem durch die effektive Gegenartillerie auf ukrainischer Seite und logistische Probleme. Diese Probleme werden nochmal dadurch intensiviert, dass Russland die wenigen mobilen und verfügbaren Einheiten in den Süden geschickt hat, in Vorbereitung auf die seit Monaten verlautbarte ukrainische Gegenoffensive im Oblast Kherson. Doch dort kann die Ukraine ebenfalls langsam vorrücken.

Auch wenn die Gewinne im Süden nicht derart beeindruckend im selben Zeitraum ausfallen, stützen sie tagtäglich die Grundlage für das große Ziel, Russland vom Territorium nördlich des Flusses Dnepr zurückzudrängen. In den letzten Tagen konnten ukrainische Einheiten die Dörfer Novovoznesenske, Liubomyrivka, Ternovi Pody, Schmidtowe und Zelenyi Hai erobern, die größten Gebietsgewinne gab es dabei im Westen zu verzeichnen, obwohl gerade der Abschnitt am stärksten befestigt ist. Dahinter steckt womöglich der Sinn, entlang der gesamten Frontlinien Druck auszuüben und darauf aufbauend Lücken oder Schwachstellen in den feindlichen Verteidigungslinien zu finden und auszunutzen.

Der über den Inhulets entstandene Brückenkopf erscheint darin bisher am erfolgversprechendsten. Dort konnten ukrainische Verbände über zwölf Kilometer bis nach Bezimenne vordringen, das umliegende Areal ist von vereinzelten Siedlungen und Äckern geprägt, was einen Vorteil für den Angreifer darstellt. Mittelfristig könnte der weitere Vorstoß dazu führen, dass Russland seine Gebiete im Nordosten Khersons aufgibt und die Frontlinien damit verkürzen würde. Auf den Nordosten wird derzeit massiver Druck ausgeübt, während die Region keinerlei natürliche Verteidigungsbarrieren besitzt. Ein Sieg hier wäre ein herber Schlag für Russland. Zumindest auf politischer Ebene gibt es den dort bereits: Russland kündigte aufgrund der anhaltenden „Sicherheitssituation“ an, das für den 11. September geplante Unabhängigkeitsreferendum des Oblasts Kherson auf unbestimmte Zeit zu verschieben.

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