Ukraine startet Gegenoffensive in Kherson

Gestern starteten ukrainische Streitkräfte eine Gegenoffensive im südukrainischen Oblast Kherson, die innerhalb der ersten 24 Stunden bereits erste Erfolge vorzuweisen hat. Aufgrund der Aktualität und dem zeitnahen Beginn sind die Ziele dieser Operation noch unklar, ebenso das Ausmaß und die Intensität der Offensive, bei der es sich wohl zum jetzigen Stand noch nicht um den seit Monaten angekündigten großen Vorstoß im Süden handelt. Während ukrainische Medien erste Fortschritte vermelden, spricht Russland bereits von der erfolgreichen Niederschlagung und Verteidigung von allen ukrainischen Angriffen in der Region, ohne Beweise dafür vorzulegen. Sollten sich die bisherigen Berichte bewahrheiten, so wären Tausende russische Soldaten von einer sicheren Nachschubversorgung in Kherson abgeschnitten, innerhalb ihren Reihen soll Massenpanik herrschen.

Der Montag markiert damit ein Wendepunkt im Ukrainekrieg, denn erstmals hätte Kiew mit dem Start eigener Offensiven die Initiative im Konflikt inne. Dem vorausgegangen waren wochen- und monatelange Militärschläge gegen vitale Ziele des russischen Militärs, insbesondere Verkehrsknotenpunkte, Militärbasen und Entscheidungszentren wurden regelmäßig attackiert und zerstört. Exemplarisch daran waren die regelmäßigen Raketenangriffe durch die amerikanischen HIMARS auf die Antonivsky-Brücke und den Dammanlagen von Nowa Kachowka, die als einzige Verbindungsstraßen die russisch besetzten Territorien nördlich des Flusses Dnepr mit den Restgebieten verbinden. Gerade in den Tagen vor und während der Gegenoffensive nahmen diese Angriffe erheblich zu, wodurch aktuell die Brücke und Staudamm unpassierbar sind, während die verbliebenen und in verminderter Kapazität funktionierenden Ponton-Brücken und Fähren ebenfalls in letzter Nacht bombardiert wurden. Das Ergebnis davon ist bisher unklar.

Ein weiterer Faktor, der den Weg für die derzeit andauernde Operation geebnet hat, sind die professionell und aktiv organisierten Partisanen, die in den von Russland kontrollierten Gebieten aktiv sind. Im Großraum Kherson konzentrierten sich diese vor allem auf Attentate und Anschläge auf Kollaborateure, das Verbreiten pro-ukrainischer Propaganda z.B. in Form von Plakaten und das Sammeln von Informationen, die dann an die jeweiligen ukrainischen Behörden weitergeleitet wurden. Erst gestern starb durch eine Autobombe der Polizeipräsident in Kherson, welcher von der russischen Armee installiert wurde und selber ebenfalls aus Russland stammt. Heute sollen sie maßgeblich dazu beigetragen haben, dass das Hauptquartier im Stadtzentrum zerstört wurde. Diese ständigen Aktionen führten dazu, dass einer der wenigen verbliebenen höherrangigen Kollaborateure, der Kherson-Vizegouverneur Kirill Stremousov, in die russische Stadt Woronesch floh.

Diese Aktionen vorab vereinfachen das, was nun an der militärischen Front gestartet wurde. Entlang der gesamten Region wurden Kämpfe gemeldet, ein größere Anzahl an mechanisierten Kampfverbänden der Ukraine soll an verschiedenen Orten die erste Verteidigungslinie durchbrochen haben, was ebenfalls pro-russische Medien bestätigen. Bestätigt sind bisher keine territorialen Eroberungen für die Ukraine, gemeldet sind jedoch Erfolge insbesondere im Norden und Süden des Frontabschnittes, wonach die Orte Novodmytrivka, Arkhanhelske, Tomyna Balka, Pravdyne, Petrivka, Zolota Balka und Sukha Balka innerhalb der ersten Stunde erobert wurden. Sollte sich dies bewahrheiten, würden ukrainische Truppen nur noch etwa zwölf Kilometer westlich von der Großstadt Kherson stehen. Dort waren über die ganze Nacht Schusswechsel zu hören, wahrscheinlich wurden parallel zur Operation ebenfalls die Partisanen vor Ort aktiver und aggressiver. Damit verbunden wird auch von der Gefangennahme dutzender russischer Soldaten gesprochen, wofür aber ebenso keine Beweise vorliegen.

Einen völlig anderen Narrativ pflegt hingegen der russische Staat, der von einer erfolgreichen Abwehr und dem Ende der ukrainischen Gegenoffensive redet. Laut ihm wurden innerhalb eines Tages 26 Panzer, 23 Schützenpanzer, über 560 ukrainische Soldaten und zwei Kampfjets eliminiert. Dabei handelt es sich um reine Fantasiezahlen inflationärer Natur, vor allem nachdem Russland am Montag noch berichtete, die ukrainische Luftwaffe vollständig ausgeschalten und alle wehrfähigen Piloten getötet zu haben. Fernab der Staatsmedien gibt es hingegen Eingeständnisse von kleineren ukrainischen Erfolgen und vor allem Kritik an der eigenen russischen Militärführung. Dabei werden auch Berichte impliziert bestätigt, wo man von der Massenflucht hunderter Soldaten an den Verteidigungspositionen redet, vor allem diejenigen, die in den ostukrainischen Volksrepubliken zwangsrekrutiert wurden und von Grund auf eine schlechte Moral besitzen, die sich ebenso auf die regulären Streitkräfte auswirkt.

Damit besteht auch das wiederkehrende Problem jener russischer Einheiten, die nördlich des Dnepr stationiert sind. Nicht nur haben sie mit einem gut bewaffneten Gegner und einer feindlichen Bevölkerung zu kämpfen, die eigene Logistik und Versorgung ist in diesen Tagen auf den Minimalpunkt, möglicherweise sogar fast vollständig gekappt. Unter diesen Umständen ist man nochmals weniger gewillt, die eroberten Gebiete verteidigen zu wollen, vor allem weil ein längerer Aufenthalt diese Probleme nur intensiveren könnte. Bisher ist das Ausmaß der ukrainischen Gegenoffensive unklar, denn verschiedene Seiten kommunizieren verschiedene Standpunkte: Ukrainische Medien sprechen von der lang angekündigten und seit Monaten vorbereiteten Großoffensive mit dem Ziel der Wiedereroberung von Kherson, während amerikanische Militärberater hingegen von einer „vorbereitenden Operation“ sprechen, worauf aufbauend dann die bereits erwähnte Gegenoffensive durchgeführt werden soll. Die genaue Definition wird wohl davon abhängig sein, welchen Erfolg die ukrainischen Verbände letzten Endes erringen können.

Der Oblast Kherson mit der gleichnamigen Großstadt war die erste Provinz, die nahezu vollständig nach der russischen Invasion der Ukraine fiel, bereits nach den ersten zwei Wochen standen etliche russische Militärverbände vor den Toren der weiter nördlich gelegenen Hafenstadt Mikolajew, die aber erfolgreich verteidigt werden konnte. Dieses Schicksal teilte Kherson jedoch nicht, weshalb es sich bis zum heutigen Zeitpunkt unter russischer Kontrolle befindet und neben dem völlig zerstörten Mariupol die größte Stadt unter russischer Verwaltung darstellt. Diese Herrschaft war jedoch von regelmäßigen pro-ukrainischen Kundgebungen geprägt, die gewaltsam aufgelöst wurden und sich die Opposition ebenfalls radikalisierte, Attentate an Kollaborateuren liegen an der Tagesordnung. Die Ukraine versucht die Region mit einer ungewöhnlichen Belagerungstaktik wiederzuerobern, die die wenigen Nachschubwege durchtrennen sollen, bisher mit Erfolg. Die gegenwärtige Operation wird sich aber wahrscheinlich noch über Wochen und Monate hinziehen.

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