
Explosionen in Sewastopol, Belgorod und Moskau: Wenige Tage vor dem ukrainischen Unabhängigkeitstag verschiebt sich die Aufmerksamkeit des Ukrainekrieges sukzessive auf das russische Kerngebiet, wo es zum wiederholten Male zu etlichen Explosionen und Angriffen gekommen ist. Zerstörte Munitionslager und attackierte Entscheidungszentren liegen inzwischen an der Tagesordnung, einmalig hingegen ist der Anschlag auf die Dugin-Familie im Herzen von Moskau. Ihre Narrative förderten und befeuerten den Ukrainekrieg immer wieder aufs Neue, wonach das Ziel eines großrussischen Eurasien nur durch Waffengewalt verfolgt werden kann. Auch wenn die Hintergründe des Attentats noch unklar sind, zeigen alle Finger des russischen Medienapparates in Richtung der Ukraine. Unabhängig von ihrer Täterschaft profitieren sie vom Angriff, welcher repräsentativ auf die russische Elite fernab der Frontlinien durchgeführt wurde.
Es war sicherlich ein überraschendes Ereignis, als mitten in der russischen Hauptstadt Moskau das Auto der Tochter von Alexandr Dugin explodierte und sie dabei tötete. Sie und ihr Vater kehrten von einem „Traditionsfestival“ in der Region zurück, wo sie als prominente Gäste und Sprecher geladen wurden. Es war wohl reiner Zufall, dass Dugin nicht im selben Auto wie seine Tochter, Daila Dugina, saß, weswegen auch angenommen wird, dass er das eigentliche Ziel des Attentats war. Dugin gilt als faschistischer, antisemitischer und insgesamt reaktionärer Vordenker der russischen Rechten und hat auch insbesondere im Westen aufgrund seiner anti-amerikanischen Texte und Überzeugungen eines Eurasien/Hyperborea unter russischer Führung innerhalb der Rechten Anklang gefunden. Dort gilt er auch als bedeutsamer Berater der russischen Regierung, auch wenn sein Einfluss in der Wirklichkeit wohl eher beschränkt ist auf die politische Rechte des Landes.
Daila steht diesen Überzeugungen in nichts nach und konnte mit ihrer Herkunft eine eigene politische Karriere etablieren, die nun ein jähes Ende findet. Vor wenigen Monaten befürwortete sie noch den Ukrainekrieg gegen das „vom faschistischen Westen in ein dekadentes und totalitäres verwandelte Land“, in dessen Ergebnis Russland durch eine „Selbstsäuberung“ wieder gesund werden wird. Während sie also eindeutige Positionen zur Ukraine besitzt, ist sie zusammen mit ihrem Vater in dem Land eher unbekannt. Dennoch ist ein Großteil der russischen Medienwelt der Überzeugung, dass der Anschlag durch den ukrainischen Geheimdienst durchgeführt wurde. Beweise gibt es dafür nicht, ebenso nicht wie die anderen Theorien, die derzeit existieren.
Neben dem Hintergrund der Ukraine oder des Westens stehen auch andere Täter im Raum, vor allem intrarussische Kontrahenten. Seine rechtsextremen Positionen geben ausreichend Anlass für politische Feinde, auch jene im eigenem Spektrum, die um Einfluss innerhalb dieser nationalbolschewistischen Organisationen buhlen. Selbst die russische Regierung kann dabei nicht ausgeschlossen werden, auch wenn sie in der Vergangenheit wesentlich diskreter agierten, anstatt dem Einsatz von Autobomben, wie man ihn ansonsten nur in den ostukrainischen Volksrepubliken kennt. In einem Russland nach Putin hätte Dugin enormen Einfluss innerhalb der dominanten Rechten, weshalb man ihn hätte präventiv eliminieren können.
Am Ende aber sind das reine Spekulationen und es wird Jahre dauern bis man den wahren Hintergrund herausfindet, falls es überhaupt passiert. Der Zeitpunkt dieses Anschlages ist aber eine Warnung, die zumindest bisher vor allem mit der Ukraine in Verbindung gebracht wird. Damit zeigen sie die Möglichkeit, selbst im Herzen des politischen Zentrums Russlands erfolgreich Attentate durchführen zu können, der destabilisierende Effekt auf die russische Elite ist offensichtlich. Vor allem aber rückt damit der Ukrainekrieg erstmals seit Februar wieder in das Gedächtnis der Moskauer Bevölkerung, welche bisher bis auf die Zunahme nationalistischer Propaganda verschont geblieben sind.
Auch entlang des russisch-ukrainischen Grenzgebietes wurden mehrfach Explosionen vermeldet. Innerhalb einer Nacht kam es zugleich zu fünf solcher Zwischenfälle: In dem Oblast Belgorod explodierte ein frisch errichtetes Munitionslager, welches im Schutze eines Waldes etwa 90 Kilometer von der Ukraine entfernt errichtet wurde. Wahrscheinlich waren hier aufgrund der Entfernung Drohnen oder Saboteure am Werk. Kurz darauf wurden in der gleichen Region Explosionen und Brände auf dem Militärflugplatz der Stadt Stariy Oskol gemeldet, hier ist der verursachte Schaden aber unbekannt. Auf der Krim kam es zu ähnlichen Ereignissen, dort soll russischen Angaben zufolge eine Drohne jeweils über der Kerch-Brücke und dem Flugfeld Belbek abgeschossen worden sein.
Über Sewastopol kam es an zwei aufeinanderfolgenden Nächten zum Einsatz russischer Luftabwehrsysteme, dessen Erfolg unbekannt ist. Angeblich wurden kleine Drohnen gesichtet, die kurz daraufhin erfolgreich vom Himmel geholt wurden und keine größeren Schäden verursachen konnten. Bilder oder Videos von den Überresten einer solchen Drohne gibt es jedoch aber nicht, oder weitere Beweise. Das Hauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte in der Millionenstadt wurde dabei einmal erfolgreich durch eine Kamikazedrohne angegriffen, was aber nur aufgrund der geringen Sprengstoffmenge kleinere Schäden auf dem Dach eines Gebäudes verursacht hatte. Bei dieser Drohne handelt es sich um eine kommerzielle „Skyeye-500“, welche in China produziert und für etwa 5.000 US-Dollar online erstanden werden kann. Diese wurde von der Ukraine oder entsprechenden Partisanen auf der Krim umgebaut, um mit Sprengstoff ausgerüstet zu werden.
Hinter alledem steckt wohl weniger die Absicht, größtmöglichen physischen Schaden zu verursachen, sondern vielmehr psychische und strategische Wunden zuzufügen. Für viele russischen Bewohner auf der Halbinsel ist die Aktivierung der Luftabwehr und den damit verbundenen Schüssen ein Schock und für Viele die erste Realisierung, dass sich Russland im Krieg mit dem nur wenige Kilometer entfernten Nachbarland befindet. Dies führte bereits zu einem Massenexodus, seit über einer Woche ist der einzige Ausweg zum russischen Festland, die Kerch-Brücke, von einem kilometerlangen Stau geprägt, ebenso nutzen mehr Menschen als gewöhnlich die damit verbundene Bahnstrecke. Zudem werden mit den billigen und einfachen Drohnen wohl die bestehenden Abwehrmechanismen getestet, welche Schwachstellen existieren und wie viele Luftabwehrsysteme überhaupt z.B. auf der Krim vorhanden sind. Die Zerstörung einer zweistelligen Anzahl an Kamfpjets auf Nowofedoriwka zeigt, dass für Russland dort erhebliche Schwachpunkte existieren.
Ein Ende solcher „Proben“ scheint es nicht zu geben, immerhin sind sie qualitativ und quantitativ einfach zu reproduzieren. Für Russland bedeutet es vor allem, dass sie ihre verbliebenen Luftabwehrsysteme vermehrt auf der Krim stationieren müssen, was wiederum zu einem Kräfteabzug in den besetzten Territorien der Ukraine führt. Dort konnten ukrainische Streitkräfte sie mit einer ähnlichen Taktik systematisch Luftabwehrsysteme zerstören, was aber aufgrund der fehlenden Reichweite der Artillerie auf der Krim wegfallen würde. Der zweite Niederlage steht bei der bereits erwähnten Propagandafront an, wodurch die russische Regierung der lokalen Bevölkerung keine Sicherheit mehr garantieren kann, was unter anderem aktuell zur Errichtung etlicher Checkpoints auf der Halbinsel führt. Da die Krim zudem ein populäres touristisches Ziel ist, verbreitet sich das Geschehen durch Mundpropaganda ebenfalls in die restlichen Regionen des Landes, unter der simplen aber für viele Einwohner unbekannten Botschaft: Russland ist in einem Krieg.