
Vor drei Tagen spitzte sich die Situation in der Region Bergkarabach erheblich zu, als Aserbaidschan zum wiederholten Male mehrere Angriffe auf die letzten Überbleibsel der armenischen Exklave mit dem gleichen Namen startete, die in dem Verlust mehrerer strategischer Gebiete und den Tod von zwei Soldaten für Bergkarabach mündeten. Dabei setzte Aserbaidschan auch erstmals seit dem Kaukasuskrieg von vor zwei Jahren schwere Waffensysteme ein, darunter mehrere türkische Angriffsdrohnen. Dies markiert den größten Gewaltausbruch seit November vergangenen Jahres, die bisherige Waffenruhe ist äußerst brüchig und die durch den Ukrainekrieg von einem Teilabzug betroffene russische Friedensmission kann solche Ereignisse nur beschränkt aufhalten. Vor allem ist es aber eine Erinnerung daran, dass die Situation jederzeit wieder zu einem vollständigen Konflikt eskalieren könnte, wenn die Parteien ihr Interesse an einer Waffenruhe verlieren.
Am Mittwoch versuchten aserbaidschanische Streitkräfte an mehreren Orten, gegen die befestigten armenischen Positionen in dem in Folge des Krieges entstandenen Rumpfstaates von Bergkarabach vorzudringen und somit neue strategische Positionen zu sichern, um umliegende Gebiete in Zukunft bedrohen zu können. Darunter fielen in erster Linie der Lachin-Korridor, der einzige Weg welcher Bergkarabach mit Armenien verbindet, und das Gebirge im Nordwesten. Bei diesen Gefechten starben auf armenischer Seite zwei und auf aserbaidschanischer Seite ein Soldat, Dutzende Weitere wurden verletzt. Nach zwei Jahren setzte Aserbaidschan dabei auch die türkischen Bayraktar-TB2-Angriffsdrohnen ein, die armenische Stellungen bombardierten und zwei Transporter zerstörten. Am Ende konnte Aserbaidschan mindestens zwei Hügel sichern, weitere Gefechte wurden durch die Intervention des russischen Militärs unterbunden.
Außenpolitische Bedingungen ergeben sich ebenfalls aus der neuesten Zuspitzung der Situation. Russland hat sich ursprünglich als neutrale Vermittlerrolle in den Friedensverhandlungen eintragen können, weshalb derzeit entlang der gesamten Frontlinie russische Soldaten stationiert sind, welche eine Abschreckungs- und Deeskalationsrolle einnehmen und dabei weitere bewaffnete Auseinandersetzungen unterbinden sollen. In Folge des Ukrainekrieges aber wurde ein Teil der dort stationierten Truppen abgezogen. Zudem offenbarte sich die offensichtliche Schwäche Russlands, welches neben den natürlichen Ressourcen nur ihre militärische Stärke als Macht- und Einflussprojektion nutzen konnte, die aber nun kaum noch existent ist. Bei einem tatsächlichen Kriegsausbruch im Kaukasus hätte Russland nicht die Kraft, eine Intervention herbeizurufen.
Die andere außenpolitische Kraft ist der Iran. Der schiitische Nachbarstaat zu Bergkarabach ist wohl der einzige regionale Partner Armeniens, dessen Kooperation sich gerade im Zuge der Niederlage vor zwei Jahren nochmals intensivierte. Zuvor herrschte ein mutmaßliches Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Kräften der gebirgigen Region, welches zuletzt zugunsten der Achse Türkei-Aserbaidschan kippte. Im Iran leben mehr Azeris als in Aserbaidschan, in Folge des militärischen Sieges in Bergkarabach gab es unter türkischer Unterstützung Avancen in Richtung dem Nordiran, den dort minimalen, aber vorhandenen Separatismus der Azeris zu unterstützen. Die Karten wurden also neu gemischt, was ebenfalls in der Außenpolitik von Teheran zu einer Verschiebung der eigenen Interessen führte.
Armenien und der Iran haben seitdem ihre wirtschaftlichen Beziehungen intensiviert, beide Länder sind dabei regional und teilweise auch international ähnlich isoliert, wenn auch aus anderen Gründen. Im Falle von Armenien ist es geographisch, bei dem Iran politisch. Eine engere Zusammenarbeit wäre also ein logischer Schritt, gerade in militärischer Hinsicht würde Jerewan davon profitieren. Ursprünglich war Russland der wichtigste Partner in Sachen Waffenhandel, welches derzeit aus offensichtlichen Gründen aber wegfällt. Das iranische Militär wiederum gehört gerade beim Sektor der bewaffneten Drohnen zu den weltbesten Produzenten, dessen kriegsentscheidende Relevanz erst im Karabachkrieg offenbart wurde und Armenien dort schmerzlich hinterherhinkt. Möglicherweise bestehen schon derartige Abkommen oder Lieferungen, was aber in näherer Zeit ein Geheimnis bleiben wird.
Damit handelt es sich um die brutalsten Scharmützel seit November letzten Jahres, wo aserbaidschanische Truppen in der Umgebung des Sees Sev armenische Positionen eroberten und bis heute erfolgreich halten können. Das betroffene Gebiet ist von dreierlei Bedeutung. Einerseits dient der See als wichtiges Bewässerungssystem für umliegende Kommunen und Dörfer, die auf Sev angewiesen sind. Zudem ist er nur wenige Kilometer von der nächstgrößten armenischen Stadt Verishen entfernt, welche damit in das Fadenkreuz zukünftiger aserbaidschanischer Angriffe und Offensive rücken könnte. Außerdem trennen genau in diesem Gebietsabschnitt nur rund 30 Kilometer die zwei aserbaidschanischen Territorien, die durch Armenien getrennt sind, ein Teil der Friedensverhandlungen aber den Bau einer Schiene zwischen diesen beiden Gebieten durch armenisches Staatsgebiet vorsah.
Diese ständigen Versuche Aserbaidschan in Armenien vorzurücken scheint dabei das strategische Kalkül zu verfolgen, aufgrund der bisher kaum gezogenen Frontlinien sich kleinere Vorteile herauszuarbeiten und die Gunst der Stunde zu nutzen. Dazu passend sind neue Drohgebärden aus Aserbaidschan nicht ungewöhnlich und an der Tagesordnung, regelmäßig werden Positionen in den staatlichen Medien verlautbart, die die Eroberung der armenischen Hauptstadt Jerewan oder die „Wiedervereinigung“ aserbaidschanischer Regionen fordern. Oftmals wird Armenien auch als letztes Puzzleteil in der Union eines pan-turkvölkisches Staates gesehen, welcher von der Türkei bis nach Xinjiang in China reicht. Solange Armenien weiterhin militärisch und politisch geschwächt ist, wird Aserbaidschan diese Chance auf Basis nationalistischer und chauvinistischer Basis zu nutzen wissen.