Wie könnten die nächsten Monate in der Ukraine aussehen?

Russland leckt seine Wunden, die Ukraine steckt mitten in ihren Vorbereitungen: Zu Anbeginn des fünften Kriegsmonates ist die Situation im osteuropäischen Land angespannt, das Konfliktpotential weiterhin hoch und eine Waffenruhe oder gar ein Frieden ein ferner Traum. Beide Länder wähnen sich als potentielle Gewinner der kommenden Monate, die Zukunft ist ungewiss, weswegen Prognosen entsprechend schwer und schlecht verifizierbar sind. Nichtsdestotrotz ermöglicht ein Rückblick in die letzten Monate eine Aussicht und Tendenz für den kommenden Zeitraum, welcher entsprechend der Jahreszeit hitzig werden könnte. Während die russische Armee im Zeitraum der letzten zwei Monaten kaum Territorium erobern konnten, steigt die Tendenz einer ukrainischen Gegenoffensive im Süden des Landes.

Im gesamten Juni konnte Russland lediglich 0,3% des ukrainischen Territoriums erobern, ein starker Rückgang im Vergleich zu den ersten Wochen und Monaten des Krieges. In diesem Zeitraum konnten sie dennoch den ostukrainischen Oblast Luhansk und die Städte Lyssychansk & Sievierodonetsk erfolgreich erobern, was einen Etappensieg bedeutete und vor allem nach einer langen Zeit von Misserfolgen einen Moralschub verursachte. Dieser scheint im Monat Juli wieder verpufft zu sein, das von Russland eroberte Gebiet ist bisher sogar rückläufig: Während russische Truppen vereinzelte Dörfer etwa zehn Kilometer westlich von Lyssychansk sichern konnten, eroberte die ukrainische Armee etwa die doppelte Anzahl an Ortschaften in den Provinzen Charkiw, Saporischschja und Kherson.

Begründet werden die ausbleibenden Fortschritte auf russischer Seite mit einer operativen Pause, welche aber inzwischen einen Monat andauert und kein Ende zu finden scheint, was angesichts eines seit Februar stattfindenden Krieges ein fragwürdiges Zeitmanagement darstellt. Trotz dieser temporären Auszeit kommt es dennoch zu Angriffen entlang weiten Teilen der Front, vor allem in Charkiw und dem Donbass, welche aber im Sande verlaufen. Erst vor kurzem hat der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu den Generalstab dazu angewiesen, die Angriffe fortzusetzen und sie sogar zu intensivieren, was ebenfalls gegen die Theorie einer „operativen Pause“ spricht.

In Wirklichkeit mangelt es wohl an den nötigen Kapazitäten dafür, bereits im April musste man einen lokalen Schwerpunkt (in diesem Falle die Ostukraine) wählen, um überhaupt noch vorrücken zu können. Aktuell bilden sich auf provinzialer Ebene Milizen in Russland, die aber jeweils nicht mehr als 300 Kämpfer zählen. Die Wagner-Privatarmee bietet in Kooperation mit der Regierung Gefängnisinsassen mit Militärerfahrung eine Amnestie an, sollten sie sich für einen Einsatz in der Ukraine einschreiben. Personell sind die Probleme offensichtlich, aber auch das vermehrte Aufkommen von 60 Jahre alten T-62-Kampfpanzern und den ebenso rustikalen BMP-1-Schützenpanzern im russischen Arsenal versprüht wenig Anzeichen für Optimismus.

Gepaart mit den regelmäßigen ukrainischen Angriffen auf Logistikzentren, Hauptquartieren und Munitionslagern, welche auf die neuesten westlichen Waffenlieferungen in Form von HIMARS und MLRS zurückzuführen sind, ist das offensive Potential auf russischer Seite relativ gering. Trotzdem sollte man nicht den Fehler begehen und Russland präventiv abschreiben, solche Ansichten stellten sich im Ukrainekrieg immer wieder als fatal heraus. Die ukrainische Regierung selber geht davon aus, dass Russland auch in näherer Zukunft weitere Gebiete erobern könnte, gerade im Donbass bzw. dem Frontabschnitt zwischen den Städten Bachmut und Izium, wo sich derzeit das Gros russischer Einheiten versammelt haben soll. Jedoch ist zumindest im näheren Zeitraum nicht davon auszugehen, dass Russland z.B. die nächste größere Verteidigungslinie im Oblast Donezk, die Städtekette von Slowjansk im Norden bis nach Kramatorsk im Süden durchbrechen wird.

Für die ukrainischen Streitkräfte hingegen scheinen die Vorbereitungen für einen langfristig geplante Gegenoffensive in der Südukraine anzulaufen. Präsident Volodymir Zelensky rief das Militär dazu auf, entsprechende Vorbereitungen für den Erfolg einer solchen Mission zu treffen, ohne einen spezifischen Zeitrahmen zu nennen. Es gibt einige Indikatoren dafür, dass sich die monatelangen Meldungen einer solchen ukrainischen Gegenoffensive endlich materialisieren. Dabei gibt es Streitigkeiten und Ungewissheiten bezüglich den potentiellen Zielen einer südukrainischer Operation. Größtenteils wird davon ausgegangen, dass die Ukraine weite Teile des Oblast Kherson wiedererobern möchte, darunter fallen zunächst die nördlich des Flusses Dnepr liegenden Gebiete und die gleichnamige Provinzhauptstadt.

Die Großstadt ist zugleich Symbol des Widerstandes, als auch Zeichen russischer Hegemoniebestrebungen. In ihr gab es seit der Eroberung in den ersten Tages des Krieges regelmäßige pro-ukrainische Demonstrationen, bis sie brutal niedergeschlagen wurden. Stattdessen nahm diesen Platz dann eine Partisanenbewegung ein, die regelmäßig Anschläge auf pro-russische Kollaborateure verübt und ein ukrainisches Geheimdienstnetzwerk mit Informationen füttert. Zugleich versucht Russland vor Ort die Gebiete forciert zu annektierten bzw. auch zu russifizieren. Die ukrainische Sprache wurde in den inzwischen vom russischen Curriculum dominierten Schulen verboten, Telekommunikation und das Internet laufen über russische Anbieter, der Rubel ist das reguläre Zahlungsmittel für Waren, die ebenfalls größtenteils aus dem großen Nachbarland stammen. Immer wieder gibt es Gerüchte darüber, dass man im Oblast ein Unabhängigkeitsreferendum ähnlich der Krim organisieren will, um den russischen Anspruch zu zementieren.

Dieser wird aber aus den genannten Gründen und den vorrückenden ukrainischen Soldaten erheblich gefährdet. Gerade schwere Artillerie hat es auf die Region abgesehen, die russischen Verteidigung haben dabei eine große Schwäche: Die Ufer des Dnepr sind nur über zwei Brücken miteinander verbunden. Eine davon verläuft über einen Staudamm bei Nowa Kachowka, welches inzwischen wöchentlich von ukrainischen Raketen angegriffen werden und Munitionsdepots in Flammen aufgehen. Die zweite Brücke und die parallel dazu verlaufende Eisenbahnbrücke führt direkt in das Stadtzentrum von Kherson, wird aber aktiv von ukrainischer Artillerie beschossen, was inzwischen zu einer Sperrung der sogenannten Antonovskiy-Brücke führte. Große Krater, wohl verursacht durch 155mm-Artilleriegeschosse aus NATO-Waffensystemen, prägen das Bild der Antonovskiy, jedoch ist sie in der Theorie noch weiterhin befahrbar und intakt, obwohl sie in zwei aufeinanderfolgenden Tagen beschossen wurde.

Darin versteckt ist wohl die Botschaft an die russischen Verteidiger, dass ihre Nachschubwege jederzeit durchtrennt werden können. Zudem ist es ein Ultimatum, noch die Möglichkeit zur Flucht zu nutzen oder stattdessen am östlichen Ufer des Dnepr gestrandet zu sein. Zumindest in Hinsicht auf die Moral wird es seine Spuren hinterlassen haben, ebenso ist es eine Warnung an die lokale Bevölkerung, um ihnen einen Ausweg aus den bevorstehenden Gefechten zu geben. Bereits jetzt schon sollen sich ukrainische Einheiten etwa 10 bis 15 Kilometer von den Stadttoren Khersons entfernt stehen, weiter nordöstlich können sie ebenfalls langsam in Richtung Nowa Kachowka vorrücken.

Tatsächlich aber gibt es auch andere Regionen in der Ukraine, in denen eine Gegenoffensive erfolgen könnte. In Folge der zunehmenden Konzentration auf Kherson zog Russland bereits Einheiten aus anderen Teilen der Ukraine ab, um sie dorthin zu schicken. Besonders davon betroffen ist der Oblast Saporischschja, die andere Region im Süden der Ukraine. Eine ukrainische Offensive hier könnte die Landverbindung zwischen der Krim und dem Donbass gefährden. Für die ukrainische Seite existieren in Saporischschja direkt mehrere Vorteile: Zunächst handelt es sich um eine hunderte Kilometer lange Ebene, die nur schlecht zu verteidigen ist. Die dort stationierten russischen und ostukrainischen Soldaten sollen äußerst schlecht ausgerüstet sein, was die Erfolgsaussichten steigert.

Es gibt noch ein drittes Gebiet, in dem die Ukraine zumindest in näherer Zeit eine partielle Gegenoffensive starten könnte, welches bisher wenig bis keine Aufmerksamkeit erhalten hat. In nordostukrainischen Oblast Charkiw liegt die Stadt Izium, welche Ende März von Russland erobert werden konnte. Der Ort ist dahingehend bedeutsam, da durch ihn der Donets-Fluss fließt und zudem auch noch im Osten und Westen von riesigen Wäldern flankiert werden, was die Stadt zum einzigen Verbindungsweg entlang einer Nord-Süd-Achse in dutzenden Kilometern Umgebung macht. Im Juni und Juli konnten ukrainische Truppen mehrere Siedlungen südlich von Izium zurückerobern, wodurch sie aktuell nur noch 15 Kilometer von dem Ort entfernt sind. Bei der aktuellen und einer verstärkten Geschwindigkeit ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich Izium wieder in ukrainischen Händen befindet. Das würde vor allem für Russland zu einem großen Problem führen, weil über Izium ein wichtiger Teil der Nachschubrouten in den nördlichen Donbass verläuft und von dort aus auch massiv Druck auf die ukrainische Stadt Slowjansk erzeugt wird. Eine russische Niederlage in Izium würde ein jähes Ende neuer Ambitionen in der Region bedeuten.

Insgesamt lässt sich sagen, dass die Ukraine, insofern sich die entsprechenden Verlautbarungen bewahrheiten und eine Gegenoffensive starten, ein reichhaltiges Angebot an Optionen hat. Damit würde Kiew erstmals die Initiative in dem Ukrainekrieg gewinnen, fünf Monate nach dem Ausbruch. Man sollte sich aber nicht der Illusion hingeben, dass Russland bereits geschlagen und nur noch einen reinen Verteidigungskampf führen wird. Abhängig von den innenpolitischen Entwicklungen besitzt das Land weiterhin über Ressourcen, den Konflikt über weitere fünf Monate problemlos führen zu können, auch wenn sämtliche öffentlich kommunizierten Ziele verfehlt werden. Eins steht dabei zumindest fest: Ein frühes Ende des Ukrainekrieges wird es nicht geben.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

%d Bloggern gefällt das: