
In den späten Abendstunden des Montag war es dann soweit: In Absprache mit dem ukrainischen Generalstab verkündeten die verbliebenen ukrainischen Verteidiger der Hafenstadt Mariupol, zum Teil reguläre Soldaten und zum anderen Teil Kämpfer des faschistischen Asow-Battalions, ihre Kapitulation in ihrer letzten Verteidigungsstellung, dem Asowstal-Industriekomplex. Die ersten Verwundeten und verbliebenen Kämpfer gingen bereits in die Kriegsgefangenschaft, wo sie dann als Resultat aus internen Hinterzimmergesprächen mit russischen Soldaten ausgetauscht werden sollen, womit ihnen eine Rückkehr in ukrainisches Territorium ermöglicht wird. Somit aber endet das Kapitel der 82 Tage andauernden Verteidigung der wichtigen Hafenstadt in der Südukraine, die für beide Seiten von erheblichen Verlusten geprägt war.
Ungefähr zehn Busse verließen gestern das Asowstal-Stahlwerk im Süden von Mariupol, allesamt gefüllt mit Verletzten und den letzten verbliebenen Verteidigern unter ukrainischer Flagge. Insgesamt 264 Personen, darunter 50 Verwundete, wurden evakuiert bzw. in Gefangenschaft in der östlichen Nachbarstadt Nowoasowsk gebracht. Dort werden sie dann mit russischen Gefangenen auf ukrainischer Seite ausgetauscht, beide Seiten besitzen eine hohe Anzahl an Kriegsgefangenen. Entgegen einigen medialen Verlautbarungen handelt es sich hierbei aber nicht um einen Rückzug, sondern wie bereits erwähnt um eine Kapitulation. Mit dem Unterschied, dass zusammen mit der Aufgabe bereits ein Gefangenaustausch verhandelt und beschlossen wurde. Laut dem ukrainischen Verteidigungsministerium hatte die Garnison in Mariupol ihre Mission erfüllt, über einen längeren Zeitraum Widerstand zu leisten und russische Kräfte an Mariupol, statt an die Donbassfront zu binden.
Die einst über 400.000 Einwohner zählende Stadt Mariupol ist seit Anbeginn des Krieges eines der wichtigsten Militärziele für Russland aus zweierlei Gründen gewesen: Einerseits ist es der letzte große Hafen am Asow’schen Meer, welcher unter ukrainischer Kontrolle stand. Mit der Eroberung von Mariupol fügt sich das letzte Puzzleteil in dem russischen Plan ein, eine Landbrücke zwischen der Krim und dem Donbass aufzubauen und zu konsolidieren. Damit verliert die Ukraine weitgehend ihr Gebiet im Süden des Landes, zudem ist man weiter vom Meereszugang blockiert, einzig Mikolajew und Odessa bilden die letzten größeren Hafenstädte des osteuropäischen Staates.
Andererseits ist Mariupol auch symbolisch bedeutsam. Während der Maidanproteste 2014 wurde die Stadt vorübergehend von der pro-russischen Bevölkerung übernommen, nur um wenige Tage später mit der Unterstützung der ukrainischen Armee wiedererobert zu werden. Dabei handelt es sich um eine Ausnahme, da der Zustand der ukrainischen Streitkräfte zu dem Zeitpunkt mehr als desaströs war und bereits weiter östlich schwere Gefechte zwischen den verschiedenen Fraktionen stattfanden. Trotz der Nähe zu den Frontlinien und vereinzelten Angriffen auf Mariupol florierte die Stadt in den letzten Jahren, konnte expandieren und auch für Jüngere einen attraktiven Standort zum leben bieten. Das alles änderte sich jedoch am 24. Februar, als russische Truppen die ukrainische Grenze überquerten und ihre Militäroffensive im ganzen Land starteten.
Bereits in den ersten Wochen des Krieges war Mariupol von der Außenwelt abgeschnitten, daraufhin folgten schwere Gefechte über weite Teile der Großstadt, bei denen beide Seiten hohe Verluste erleiden mussten. Diese Kämpfe mündeten letzten Endes in der Schlacht um das Stahlwerk Asovstal nahe dem Hafen von Mariupol, eines der größten Industriebetriebe Europas. Die verharrenden Verteidiger, laut pro-russischen Angaben 2000 Soldaten mitsamt Hunderten Zivilisten, konnten in Asovstal auf ein immensen Verteidigungs- und Bunkernetzwerk setzen, welches noch zu Zeiten der Sowjetunion dort aufgebaut wurde. Dies erlaubte den Kämpfern, sich trotz immensen Beschusses, mehrmals erfolgloser Erstürmungsversuche und einer Belagerung, diese lange Zeit relativ problemlos zu überleben. Weshalb es nun letzten Endes zur Kapitulation kam ist unklar, höchst wahrscheinlich aber kam es kaum noch die nötigen Nahrungsmittel etc., um ein mittelfristiges Überleben zu sichern.
Während der Sieg in Mariupol entsprechend von russischer Seite gefeiert wird, gilt nicht zu vergessen, unter welchen immensen Aufwand dies geschehen ist. In der zweiten Hälfte des Kampfes um Mariupol wurden in den Küstenvierteln und den Industriegebieten um jede Straße gekämpft, die teilweise veröffentlichten Videos und Bilder zeigen die immensen Verluste auf beiden Seite, sowohl personell als auch materiell. Insbesondere die russische Seite rechnete wohl nicht mit einem derartigen Widerstand und man ging von einer frühen Niederlage für die ukrainische Seite in Mariupol aus. Stattdessen ist der Ort nun weitgehend zerstört, Hunderttausende Menschen flohen aus Mariupol. Die Stadt liegt nun im administrativen Verwaltungsbereich der Donetsker Volksrepublik, weshalb man unter der Aufsicht des „Premierministers“ Denis Puschilin den 9. Mai, den Sieg der Sowjetunion über das Dritte Reich und das Ende des Zweiten Weltkrieges, bereits „groß“ mit mehreren dutzend Personen feierte. Dafür wurde eigens eine Straße für die Parade geräumt, während der Rest von Mariupol weiterhin von Trümmern und Zerstörung geprägt sein wird.