
Eigentlich war der Abzug russischer Truppen aus Teilen der Nordukraine und insbesondere aus der Region der ukrainischen Hauptstadt Kiew ein kurzer Lichtblick und Moment zum Aufatmen von Millionen Menschen, die nur unweit der einst hart umkämpften Frontlinien ihr Zuhause hatten. Stattdessen aber wird der russische Rückzug von dem überschattet, was die Außenwelt aus den nun wiedereroberten Gebieten erfährt: In jeder Stadt und jedem Dorf kam es zu regelrechten Massakern an der ukrainischen Zivilbevölkerung, auf den Straßen und in den Kellern türmen sich Leichen, die teilweise vermint sind und Spuren von Folter oder Vergewaltigungen aufweisen. Die Anzahl der scheinbar willkürlich getöteten Personen reicht bis in den vierstelligen Bereich, ein Großteil der wiedereroberten Orte konnte noch nicht mal betreten werden. Zusammen mit den immensen Plünderungen ergibt sich ein apokalyptisches Szenario, welches nur zu gut an die russischen Taktiken im Tschetschenienkrieg erinnert.
Die seit Samstag veröffentlichten Bilder, zu dem Zeitpunkt wo ukrainische Einheiten in jene Gebiete einrückten, die in den Tagen zuvor von der russischen Armee in Folge erheblicher Verluste und ausbleibender Erfolge aufgegeben werden mussten, offenbaren die Brutalität, mit der die russischen Truppen in der Nordukraine wüteten. Alleine in den ehemaligen Frontstädten wie Butscha oder Irpin wurden bis zu 500 getötete Zivilisten gefunden, die teilweise auf der Straße lagen. Viele Orte wurden noch gar nicht von ukrainischen Truppen betreten, geschweige denn zivile Hilfsorganisationen. Einige von ihnen wurden in der Kanalisation gefunden, Andere hatten ihre Hände mit Kabelbindern gefesselt. In den Wäldern gibt es teilweise provisorisch errichtete Massengräber, viele davon sind vermint. Bereits in Tschetschenien gab es ähnliche Bilder, nachdem Russland mit den sogenannten „Zachistka“-Operationen begannen, euphemistisch für Säuberungsoperationen.
Bereits in den Tagen und Wochen zuvor gab es ähnliche Meldungen, russische Soldaten würden äußerst brutal und rücksichtslos gegen die Bevölkerung vorgehen, dabei hätten sie es vor allem auf teuren Privatbesitz wie Elektronik oder Autos abgesehen, die kurzerhand zusammen mit dem Armeerückzug auch mitgenommen wurden. Auch Nahrungsmittel waren heiß begehrt, da die Versorgungslage im Norden wie in anderen Teilen des Landes für die russischen Soldaten desaströs war. Dies und die militärischen Niederlagen waren sicherlich ein Faktor in der Demoralisierungsspirale, die letzten Endes zu dem geführt haben, was wir heute sehen.
Es ist unklar, welche Intention hinter diesen Massenmorden steht. Die USA warnte bereits bei Anbeginn des Ukrainekrieges, dass Russland über Listen von Oppositionellen und pro-ukrainischen Anhängern verfügt, die zur Eliminierung ebendieser Personen dienen sollten. Jedoch scheint dies hier nicht der Fall zu sein, zumindest ist bisher kein Muster bei den Exekutionen erkennbar. Vielmehr scheint es reine Willkür gewesen zu sein, wobei Männer im wehrfähigen Alter besonders schwer getroffen wurden. Anwohner berichten davon, dass die meisten Tötungen kurz vor dem Truppenabzug Russlands gestartet haben sollen, dahinter also möglicherweise die Logik einer „Verbrannten Erde“ stehen könnte. Es ist noch verfrüht einen Trend daraus abzulesen, sollten die ukrainischen Soldaten wie bisher aber weiter in den Regionen Chernihiv und Sumy vorrücken und dort auf ähnliche Massaker treffen, könnte dies eine starke Tendenz zeigen.
Es gibt bisher keine Anzeichen dafür, dass dahinter eine größere Absicht der russischen Regierung dahintersteckt, welche wahrscheinlich nicht mal von diesen Vorfällen wussten, wohl aber auch nicht Schritte dagegen einleiten werden. Die russische Militäroffensive in der Ukraine ist relativ dezentral organisiert, die verschiedenen Frontabschnitte, in diesem Falle Kiew, besitzen Autonomie und können ihr eigenes Vorgehen entscheiden. Eine übergreifende Organisationsstruktur existiert nicht. Womöglich waren die Morde das Resultat der erheblich aufgestauten Frustration bei den lokalen Kommandanten, die ihre ursprünglich gesetzten Ziele – die Eroberung oder zumindest Einkreisung von Kiew – nicht erfüllen konnten und stattdessen mit militärischen und zivilen Widerstand zu kämpfen hatten. Auf der anderen Seiten wandte Russland ähnliche Strategien wie bereits erwähnt in Tschetschenien ein.
In den südukrainischen Regionen wie Kherson oder Melitopol sehen sich russische Soldaten ebenso Protesten der Bevölkerung ausgesetzt, wobei diese bisher eher typisch für militärische Okkupanten eher mit dem Einsatz von Tränengas, Waffenandrohung und vereinzelten Entführungen agieren, kein Vergleich zum Geschehen im Norden des Landes. Alternativ könnte es auch dadurch erklärt werden, dass Russland keine langfristigen Besatzungspläne derart weit westlich wie in Kiew hegt und dort entsprechend brutal vorgeht, während sie es im Süden, welche für die Landbrücke zwischen dem Donbass und der Krim unabdingbar ist, nicht sind. Jedoch gab und wird es auch ähnlich Bilder und Beweise aus der Stadt Mariupol geben, welche aktuell noch hart umkämpft ist.