
In einer überraschenden Nacht-und-Nebel-Aktion kam es in der Nacht zum Donnerstag zu einem äußerst seltenen und bedeutungsvollen Zwischenfall im Grenzgebiet zwischen Syrien und der Türkei, in der letzten noch von islamistischen Kräften kontrollierten Provinz Idlib im Nordwesten des Landes. Mehrere Kampfhelikopter der USA brachten Spezialeinheiten in einen abgelegenen Wohnkomplex, welcher lediglich und 1,5 Kilometer von der türkischen Grenze entfernt liegt und ein Rückzugsort für ranghohe al-Qaida-Anhängern oder Kommandanten des Islamischen Staates gedient haben soll. Nach stundenlangen Unklarheiten stellte sich heraus, dass das Ziel der neue Kalif des Islamischen Staates, Abu al-Qurashi, gewesen sein soll. Seit September überwachen amerikanische Aufklärungsdrohnen die Umgebung, dennoch kam es zu keinem reibungslosen Ablauf der Bodenoperation: Ein defekter Helikopter musste zerstört werden, während unter den getöteten Personen auch zehn Zivilisten waren.
Die Geheimoperation war wohl ein ungeplantes Fiasko für derartige Missionen, obwohl die USA bzw. das amerikanische Verteidigungsministerium von einer erfolgreichen Operation sprach, ohne jedoch zunächst das genaue Ziel zu spezifizieren. Der eigentlich einige wenige Minuten andauernde Militäreinsatz hat sich zu einer zweistündigen Odyssee entwickelt, einer der eingesetzten Helikopter soll durch einen technischen Defekt nicht mehr operierbar gewesen sein. Zudem wurden zwischendurch noch zusätzliche Verstärkung angefordert. Dies entspricht nicht dem üblichen Tathergang bei der Entführung oder Ermordung hochrangiger Terroristen, wo am Ende der Mission das Wohnhaus/Rückzugsort von mehreren amerikanischen Luftschlägen zerstört wird. Erst am Tag darauf veröffentlichte US-Präsident Joe Biden das tatsächliche Ziel der Mission: Der neue Anführer des Islamischen Staates.
Mit dem Sonnenaufgang wurden weitere Informationen vor Ort bekannt. Insgesamt wurden in Folge von Feuergefechten mindestens 13 Menschen getötet, mit sechs Kindern und vier Frauen handelt es sich bei dem Großteil um Zivilisten. Da die Zielperson vorerst unbekannt gewesen ist und die USA sich diesbezüglich bedeckt hielt, sind mehrere Gerüchte aufgetaucht, die vom neuen IS-Anführer Abu al-Qurashi, über den langjährigen al-Qaida-Anführer Ayman Zawahiri bis lokalen Vertretern von al-Qaida gehen. Der attackierte Wohnkomplex befindet sich unweit des Ortes Atmeh, welches wiederum rund zwei Kilometer von der türkischen Grenze entfernt liegt. Der kleine Ort ist zudem das Zuhause eines Flüchtlingslagers, welches von den örtlichen islamistischen Gruppen als gesunder Nährborden für die Rekrutierung neuer Mitglieder genutzt wird.
Es ist nicht viel über den neuen Anführer al-Qurashi bekannt, nur dass sein letzter Name eine Referenz zu dem arabischen Stamm al-Quraysh darstellt, zu dem auch der islamische Prophet Mohammed gehört und zur damaligen Zeit über die Region Mekka herrschte. Ein klares Verwandschaftsverhältnis zu Mohammed ist elementar, um die Rolle des Kalifen in der islamischen Lehre einzunehmen. Auch wenn der Tod des neuen Anführers ein herber Verlust für die Terrormiliz darstellt, ist es verschmerzbarer im Vergleich zu al-Baghdadi. Denn seit der Niederlage in Syrien und Irak agieren die nationalen Ableger des IS immer autonomer und autarker.
Die Provinz Idlib hat sich seit 2015 zu einem wichtigen Rückzugsgebiet für Islamisten und Dscihadisten aus allen Ländern der Welt entwickelt, unter der Präsenz der Türkei und der lokalen Herrschaft von Tahrir al-Sham (ehemals bekannt unter Jabhat Fateh al-Sham und al-Nusra, syrischer al-Qaida-Ableger) existiert große ideologische Nähe und gute Beziehungen zu anderen terroristischen Vereinigungen im Nahen Osten, insbesondere zu al-Qaida. Der prominentester Vertreter dabei ist der ehemalige Kalif des Islamischen Staates Abu Bakr al-Baghdadi, welcher rund 20 Kilometer weiter südlich im Jahre 2019 durch eine amerikanische Spezialmission ermordet wurde. Dieses Szenario scheint sich nun zu wiederholen.