
Nur noch 200 Kilometer trennten die herannahenden Kämpfer der Tigray-Volksbefreiungsfront (TPLF) von der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba, zusammen mit anderen separatistisch-ethnisch organisierten Milizen könnten sie dem seit einem Jahr andauernden Bürgerkrieg zwischen Zentralregierung und den bereits erwähnten Kräften ein jähes Ende setzen. Jedoch scheint das mittelfristige Kalkül der Regierung aufgegangen zu sein: Mit den erheblichen Erfolgen und Fortschritten musste die TPLF und die mit ihnen verbündete Oromo-Befreiungsfront (OLF) ihre Kräfte auf einen wesentlich größeren Raum fernab des eigenen Territoriums verteilen und sich damit überdehnen, was eine groß angelegte Gegenoffensive zur Folge hat. Innerhalb weniger Tage konnten die Erfolge der Tigray über den letzten Monat revidiert werden, vielmehr aber als Resultat eines taktischen Rückzuges statt ernsthafter Kämpfe, sodass man nun quasi auf die Ausgangssituation von November zurückgekehrt ist. Hunderte Tote sind auf beiden Seiten damit einem grundlosen Tod gestorben, die Regierung feiert sich als großen Sieger und droht, das Fiasko von Mekelle zu wiederholen.
Es ist wenig überraschend, dass kurz nach der Ankündigung des äthiopischen Präsidenten Abiy Ahmed, sich an die Frontlinien zu begeben und dort den Kampf gegen die „vom Ausland kontrollierten und gesteuerten Terroristen“ zu führen, eine derart große Gegenoffensive gestartet wurde, dessen Erfolg in den Staatsmedien entsprechend mit ihn in Verbindung gebracht wird. In Wirklichkeit ist sie aber eher das Resultat lang- und mittelfristiger Planung, die bereits vor dem Militärauftritt Abiys stattgefunden haben muss. Dementsprechend erfolgreich scheint auch die Operation zu verlaufen: Ohne auf wirklichen Widerstand stoßend konnten die äthiopischen Streitkräfte den Gegner bis zu 100 Kilometer von der Hauptstadt zurückschlagen, dabei konnten sehr wichtige Städte wie Dessie oder Kombolcha wiedererobert werden.
Dies fand erstmals mit der intensiven Unterstützung der Luftwaffe und verschiedener Drohnensysteme statt, die mehrheitlich aus den Produktionslinien der Türkei und den Vereinigten Arabischen Emiraten stammen. Bis auf vereinzelten Verlusten durch die Zerstörung einiger Transporttrucks und Panzer gibt es aber kaum Meldungen von Verlusten auf der Seite der TPLF, vielmehr scheint es sich um einen geordneten Rückfall auf die eigenen Verteidigungspositionen zu handeln. Genauere Darstellungen diesbezüglich fällt aber schwierig, da die äthiopische Regierung unabhängige Berichterstattung zum Konflikt zensiert und stark einschränkt. In den letzten Tagen konnte die TPLF bzw. ihr militärischer Arm der Tigray-Verteidigungskräfte (TDF) einige Gebiete wiedererobern, darunter die Stadt Lalibela und die gleichnamige Pilgerstätte, die zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Weiter südlich konnte auch der Ort Ganesha gesichert werden, welches inzwischen fünf Mal den Besitzer wechselte. Es ist völlig unklar wie sich die Situation in den kommenden Tagen und Wochen weiterentwickeln wird.
Nichtsdestotrotz offenbart die neue Situation zum Ende des Jahres die Kraftverhältnisse im äthiopischen Konflikt. Den Tigray und weiteren, oppositionell-ethnischen Milizen und Organisationen fehlt es an den nötigen Ressourcen, sich langfristig und einer organisierten Zentralregierung entgegenzusetzen, vor allem die fehlende Mannstärke ist dabei bemerkbar. Auf der anderen Seite hat die Vergangenheit bereits mehrfach gezeigt, dass das Vorrücken der Armee in Tigray-Territorium erhebliche Probleme und Verluste mit sich bringen wird, alleine bei der kurzen Schlacht von der Regionshauptstadt Mekelleh wurden tausende Soldaten gefangen genommen, während ebenso viele gestorben sind. Generell ist der Trend bemerkbar, dass bei „regulären“ Auseinandersetzungen bzw. Schlachten die TDF den Sieg auf ihrer Seite haben, dafür aber nur eingeschränkt Machtprojektion in Äthiopien besitzen. Am Ende könnte das zu einem Stillstand führen, da beide Fraktionen nicht ihre militärischen Ziele durchbringen können. Als große Verlierer geht vor allem die Bevölkerung in Tigray heraus, welche bereits heute schweren Hungersnöten und Importblockaden ausgesetzt sind, während weitere Millionen in die Nachbarländer wie den Sudan oder Kenia geflüchtet sind.

Ursprünglich sollte der Tigray-Konflikt Premierminister Abiy zufolge nur drei Wochen andauern und ein Ende der rebellischen Provinz an der nördlichen Grenze bedeuten. Stattdessen sieht sich Äthiopien seit über einem Jahr mit einem Krieg konfrontiert, an denen immer mehr Kräfte und Länder beteiligt werden, ein Ende dieser Eskalationsspirale ist nicht in Sicht. Zu Beginn gab es Optimismus für die Regierung, nach einem Monat waren weite Teile der Tigray-Provinz unter föderaler Kontrolle, darunter sämtliche Autobahnen und größeren Städte wie die Provinzhauptstadt Mekelleh. Jedoch begann ab diesem Zeitpunkt die zweite und elementare Phase des Krieges erst: Der brutale Abnutzungskrieg der TDF, die im Hinterland und auf gebirgigen Terrain erfolgreich Guerillataktiken anwenden und mit der Unterstützung der lokalen Bevölkerung den Feind wieder vertreiben konnten.
Sieben Monate später wurde Mekelleh nahezu kampflos wiedererobert, wobei bis zu 4.000 Soldaten gefangen genommen wurden. Derweil schwappte der Konflikt in die Nachbarländer über, ungeklärte Grenzverläufe mit dem Sudan führten Ende 2020 zu Spannungen und Scharmützeln mit Verletzten auf beiden Seiten, während Eritrea bis heute Teile Tigrays besetzt hält und dort ethnische Säuberungen und Raub begangen haben sollen. Selbst somalische Kämpfer sollen involviert sein, jedoch ist dies nicht bestätigt. Die Türkei und Vereinigten Arabischen Emirate liefern neuerdings Waffen und Kampfdrohnen an die Zentralregierung, während sich andere Staaten bisher zurückhalten.
Äthiopien galt noch vor kurzem als Staat mit optimistischer Zukunftsperspektive, als stabiler internationaler Verbündeter inmitten einer von Armut und Hunger geschundenen Region der Welt, welches mit dem Tigray-Konflikt aber wohl ein jähes Ende fand. Rund 400.000 Menschen sind in Tigray auf internationale Hilfslieferungen angewiesen, Tausende von Zivilisten wurden getötet und 2,5 Millionen Menschen befinden sich auf der Flucht, ein Großteil davon in Richtung Kenia und dem Sudan. Mit dem zunehmend autoritären Führungsstil von Abiy verschlechtert sich zudem auch die politische Situation in Äthiopien, neben der Einschränkung von Freiheiten führt dies zu verstärkten ethnischen Spaltungen und Konflikten innerhalb dieses Vielvölkerstaates.
Anlass des Konfliktes waren der Angriff der TDF auf mehrere Militärbasen entlang der äthiopisch-eritreischen Grenze, die wichtiges Militärequipment enthielten. Zuvor kam es immer wieder zu Spannungen zwischen der regionalen Tigray-Regierung und der Wohlstandspartei unter Premierminister Abiy. Unter anderem wollte die TPLF sich nicht der Parteienallianz unter Abiy anschließen, zudem führten sie landesunabhängige Entscheidungen durch, wie z.B. die Durchführung von Regionalwahlen, nachdem die Zentralregierung aufgrund der Corona-Pandemie sämtliche Wahlen vertagt hatten. Außerdem stellte die TPLF von 1991 bis 2018 nach dem Sturz der Derg-Diktatur eine autoritäre Regierung, welche erst nach schweren Protesten der Bevölkerung von Abiy und seinem politischen Bündnis abgelöst wurde.