
Mit der Niederlage Armeniens im 44-tägigen Krieg um Bergkarabach gegen Aserbaidschan wurden die Karten im Südkaukasus neu gemischt: Mit dem partiellen Verlust der umkämpften Region wurden die Grenzverläufe neu gezogen, die beiden Nachbarstaaten teilen nun eine größere gemeinsame Grenze, die in Teilen noch nicht eindeutig befestigt und markiert wurde. Eine Gelegenheit, die sich Aserbaidschan bereits mehrmals zu Nutzen machte, um neue Gebiete auf armenischen Staatsgebiet zu erobern und damit die Abwehrfähigkeiten der christlichen Nation und der russischen Armee zu testen, welche als Grenzsoldaten den Frieden zwischen den beiden Ländern wahren sollen. Am vergangenen Dienstag war es wieder soweit, aserbaidschanische Truppenverbände marschierten in der Provinz Syunik ein und konnten dabei Gebiete besetzen, welche sie unter russischer Vermittlung kurz darauf wieder aufgeben mussten. Dabei kam es zum Einsatz von schwerem Kriegsgerät, beide Seiten vermelden erhebliche Verluste.
Die aserbaidschanische Operation startete in der Nacht vom 15. zum 16. November mithilfe mehrerer Schützenpanzer, die in der Nähe des armenischen Dorfes Sisian auf zwei armenische Militärposten vorrückten und diese kurzerhand übernehmen konnten. Kurz darauf eskalierte die Situation und es kam zum Einsatz von Artillerie, Drohnen und weiteren schweren Waffen, die letzten Endes auf armenischer Seite zum Verlust eines Transport-Trucks und auf aserbaidschanischer Seite zur Zerstörung zweier Schützenpanzer und zweier Trucks führten. Das Verteidigungsministerium in Baku bestätigte den Tod von sieben Soldaten und etlichen Verletzten, während Armenien den Tod eines Soldaten und die Gefangennahme von zwölf Kämpfern bestätigte. Auf Videos ist zu sehen, wie diese gefangenen Armenier von aserbaidschanischen Soldaten misshandelt werden.
Armenien rief kurzerhand zur russischen Unterstützung und Schlichtung auf, einerseits da sie seit Ausbruch des letzten großen Krieges entlang der aserbaidschanisch-armenischen Grenze Militärbasen aufbauten und als faktische Friedensmacht agieren und andererseits Armenien und Russland im gemeinsamen Militärbündnis der „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ (CSTO) aktiv sind, welches im Falle von solchen Angriffen den Bündnisfall ausrufen könnte. Nach dem Eingriff Russlands konnte dann 24 Stunden später der Status Quo wiederhergestellt werden, das von Aserbaidschan rund 40 Quadratkilometer große Gebiet musste wieder aufgegeben werden. Was bleibt ist die angespannte Lage, die jederzeit erneut eskalieren könnte.
Damit handelt es sich um die brutalsten Scharmützel seit Mai letzten Jahres, wo aserbaidschanische Truppen in der Umgebung des Sees Sev ebenfalls armenische Positionen eroberten und bis heute erfolgreich halten können. Das betroffene Gebiet ist von dreierlei Bedeutung. Einerseits dient der See als wichtiges Bewässerungssystem für umliegende Kommunen und Dörfer, die auf Sev angewiesen sind. Zudem ist er nur wenige Kilometer von der nächstgrößten armenischen Stadt Verishen entfernt, welche damit in das Fadenkreuz zukünftiger aserbaidschanischer Angriffe und Offensive rücken könnte. Außerdem trennen genau in diesem Gebietsabschnitt nur rund 30 Kilometer die zwei aserbaidschanischen Territorien, die durch Armenien getrennt sind, ein Teil der Friedensverhandlungen aber den Bau einer Schiene zwischen diesen beiden Gebieten durch armenisches Staatsgebiet vorsah.
Diese ständigen Versuche Aserbaidschan in Armenien vorzurücken scheint dabei das strategische Kalkül zu verfolgen, aufgrund der bisher kaum gezogenen Frontlinien sich kleinere Vorteile herauszuarbeiten und die Gunst der Stunde zu nutzen. Dazu passend sind neue Drohgebärden aus Aserbaidschan nicht ungewöhnlich und an der Tagesordnung, regelmäßig werden Positionen in den staatlichen Medien verlautbart, die die Eroberung der armenischen Hauptstadt Jerewan oder die „Wiedervereinigung“ aserbaidschanischer Regionen fordern. Oftmals wird Armenien auch als letztes Puzzleteil in der Union eines pan-turkvölkisches Staates gesehen, welcher von der Türkei bis nach Xinjiang in China reicht. Solange Armenien weiterhin militärisch und politisch geschwächt ist, wird Aserbaidschan diese Chance auf Basis nationalistischer und chauvinistischer Basis zu nutzen wissen.