
Was eigentlich eine kurze, dreiwöchige Militäroperation im Norden Äthiopiens sein sollte, könnte sich nun als der finale Sargnagel des ostafrikanischen Staates herausstellen: Seit über einem Jahr bekämpfen sich die äthiopische Zentralregierung und die ethnische Minderheit der Tigray in der gleichnamigen Provinz im Norden, der Ausgang der Gefechte für lange Zeit ungewiss und von einem ständigen Hin und Her geprägt. Mit den Erfolgen der letzten Monate, unter anderem die Vernichtung einer groß angekündigten Armeeoffensive, die kürzliche Eroberung der über 600.000 Einwohner zählenden Stadt Dessie in der Amhara-Region und der Entstehung einer Landverbindung mit anderen regierungsfeindlichen, separatistischen Gruppen, befindet man sich nur noch rund 200 Kilometer (von anfänglichen 500) von der Hauptstadt Addis Abeba entfernt, wo derzeit blanke Panik herrscht: Mitglieder der Tigray- und Oromo-Minderheit werden als Spione gebrandmarkt und getötet, während mit der Ausrufung des Ausnahmezustands die Bevölkerung bewaffnet werden soll. Was lange Zeit als potentielle Großmacht in der Region gehalten wurde, droht nun in sich selbst zu implodieren.
Am Dienstag wurde offiziell ein sechsmonatiger Ausnahmezustand verkündet, nachdem die Tigray-Verteidigungskräfte (TDF) zusammen mit der Oromo-Befreiungsfront wichtige Orte in rund 200 Kilometer Entfernung von Addis Abeba erobern konnten, in der Amhara-Provinz. Noch vor zwei Tagen forderte der äthiopische Premierminister Abiy Ahmed die Bevölkerung dazu auf, sich gegen die herannahende Gefahr der „Volksbefreiungsfront der Tigray“ (TPLF, der politische Arm der TDF) zu bewaffnen. Damit befindet sich die Zentralregierung ersichtlich unter Druck gesetzt, mit dem Ausnahmezustand werden viele demokratische und rechtsstaatliche Befugnisse außer Kraft gesetzt, die zur weiteren Dämonisierung und Stigmatisierung der jeweiligen Minderheiten wie den Tigray führen wird, welche in der Hauptstadt vermehrt als Spione und Handlanger des Feindes deklariert werden. Zudem berichtet Abiy von ausländischen und insbesondere westlichen Kämpfern, die sich auf Seiten der Tigray-Verteidigungskräfte beteiligen. Beweise dafür existieren jedoch nicht.
Die verbliebenen Armeeeinheiten scheinen aufgrund ethnischer Identifikation wenig Interesse einen ernsthaften Widerstand gegen die erfahrenen Tigray-Kämpfer leisten zu wollen, weshalb die Regierung insbesondere auf lokale Milizen und Einwohner zurückgreift, die teilweise nicht mit mehr als Macheten bewaffnet sind. Dies führte zum Aufstieg rechtsradikaler Bewegungen wie der FANO, die sich als Vertreter der Amhara-Minderheit betrachten und etliche Verbrechen an den Tigray begangen haben, darunter die vollständige Zerstörung mehrerer Dörfer oder der gezielte Mord an Frauen und Älteren der Tigray. Einzig im Luftraum kann die Regierung klar dominieren, wo sie inzwischen zu einer Taktik der Demoralisierung übergegangen sind: Statt militärischen Zielen wird stattdessen die „Heimatfront“ in unregelmäßigen Abständen bombardiert, so werden in der Hauptstadt Mekelleh immer wieder Fabriken, Universitäten oder Wohnhäuser bombardiert. Währenddessen verschieben sich die Frontlinien dramatisch in Richtung Addis Abeba.

Für viele hatte der Kampf um die Großstadt Dessie in der südlichen Wollo-Region in der Amhara-Provinz den Status einer Entscheidungsschlacht inne. Immerhin handelt es sich bei Dessie nicht nur um das größte Hindernis auf der Route von Tigray nach Addis Abeba, sondern befindet sich auch auf etwa die Hälfte der Strecke. Die TDF hatte fernab ihres eigenen Territoriums stets urbane Gefechte vermieden, was aber auch oftmals für die Gegnerseite galt. Zudem liegt Dessie an einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt, entlang der Nord-Süd-Achse als das letzte bereits erwähnte Hindernis und entlang der Ost-West-Achse als wichtige Transitstrecke zwischen Äthiopien und dem Nachbarland Dschibuti, über welches das Gros der äthiopischen Importe transportiert werden.
Zusammen mit der kleineren Nachbarstadt Komboldcha dauerten die Kämpfe mehrere Tage an, jedoch kam es innerhalb der Siedlungen kaum zu Auseinandersetzungen und Militärschlägen. Vielmehr umkämpft hingegen waren die umliegenden Hügel und Berge, wodurch es oftmals zu taktischen Ruckzügen und einem ständigen Hin und Her gekommen ist, bis die TDF final ihre Kontrolle durchsetzen konnten. Noch kurz zuvor kündigte Premierminister Abiy und das äthiopische Verteidigungsministerium eine groß angelegte Militäroffensive an, die die Wende im Krieg und damit zur letzten Operation werden sollte. Fernab der Ankündigungen blieb aber nur Ernüchterung übrig, bis auf den Verlust mehrerer Städte in Richtung von Debre Tabor in Amhara konnte die Armee größtenteils zurückgeschlagen und stattdessen eine eigene Gegenoffensive gestartet werden, die zur Eroberung von Dessie und Umgebung führte.
Ein weiterer wichtiger Faktor für die Entwicklungen der letzten Tage ist das nun verbundene Territorium der Tigray-Milizen und dem der Oromo-Befreiungsfront, einer separatistischen Gruppierung, die sich für einen unabhängigen Staat für die Ethnie der Oromo einsetzt. Die Oromo zählen zu den größten Minderheiten des Landes und sind insbesondere im Süden des Landes in der gleichnamigen Provinz Oromiya vertreten, jedoch gibt es auch einzelne Gruppierungen die wie im aktuellen Falle im Norden Äthiopiens beheimatet sind, darunter die Wollo als Untergruppe der Oromo in der Umgebung von Dessie.
Diese konnten in den letzten Tagen beachtliche Erfolge erzielen und mehrere Orte erobern, darunter Bati östlich von Dessie oder Kemise und Senbete im Süden, letztere Stadt liegt nur 160 Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Ohnehin kontrolliert die Befreiungsfront sogar mehrere Dörfer rundum Addis Abeba, jedoch besitzen diese kaum bis keine offensiven Kapazitäten und halten sich deswegen bisher weitgehend zurück. Nichtsdestotrotz kündigten die beiden Fraktionen, welche seit August dieses Jahres eine offizielle Allianz besitzen, einen gemeinsamen Marsch auf Addis Abeba an. Der letzte Abschnitt zwischen Dessie und der Hauptstadt ist von flachem Terrain und einer Oromo-dominanten Bevölkerung geprägt, weshalb sich die Separatisten optimistisch geben. Westliche Botschaften wie die USA oder auch Russland warnen ihre Bürger vor Reisen in das Land, verbunden mit der Aufforderung, schnellstmöglich das Land zu verlassen.
Ursprünglich sollte der Tigray-Konflikt Premierminister Abiy zufolge nur drei Wochen andauern und ein Ende der rebellischen Provinz an der nördlichen Grenze bedeuten. Stattdessen sieht sich Äthiopien seit über einem Jahr mit einem Krieg konfrontiert, an denen immer mehr Kräfte und Länder beteiligt werden, ein Ende dieser Eskalationsspirale ist nicht in Sicht. Zu Beginn gab es Optimismus für die Regierung, nach einem Monat waren weite Teile der Tigray-Provinz unter föderaler Kontrolle, darunter sämtliche Autobahnen und größeren Städte wie die Provinzhauptstadt Mekelleh. Jedoch begann ab diesem Zeitpunkt die zweite und elementare Phase des Krieges erst: Der brutale Abnutzungskrieg der TDF, die im Hinterland und auf gebirgigen Terrain erfolgreich Guerillataktiken anwenden und mit der Unterstützung der lokalen Bevölkerung den Feind wieder vertreiben konnten.
Sieben Monate später wurde Mekelleh nahezu kampflos wiedererobert, wobei bis zu 4.000 Soldaten gefangen genommen wurden. Derweil schwappte der Konflikt in die Nachbarländer über, ungeklärte Grenzverläufe mit dem Sudan führten Ende 2020 zu Spannungen und Scharmützeln mit Verletzten auf beiden Seiten, während Eritrea bis heute Teile Tigrays besetzt hält und dort ethnische Säuberungen und Raub begangen haben sollen. Selbst somalische Kämpfer sollen involviert sein, jedoch ist dies nicht bestätigt. Die Türkei und Vereinigten Arabischen Emirate liefern neuerdings Waffen und Kampfdrohnen an die Zentralregierung, während sich andere Staaten bisher zurückhalten.
Äthiopien galt noch vor kurzem als Staat mit optimistischer Zukunftsperspektive, als stabiler internationaler Verbündeter inmitten einer von Armut und Hunger geschundenen Region der Welt, welches mit dem Tigray-Konflikt aber wohl ein jähes Ende fand. Rund 400.000 Menschen sind in Tigray auf internationale Hilfslieferungen angewiesen, Tausende von Zivilisten wurden getötet und 2,5 Millionen Menschen befinden sich auf der Flucht, ein Großteil davon in Richtung Kenia und dem Sudan. Mit dem zunehmend autoritären Führungsstil von Abiy verschlechtert sich zudem auch die politische Situation in Äthiopien, neben der Einschränkung von Freiheiten führt dies zu verstärkten ethnischen Spaltungen und Konflikten innerhalb dieses Vielvölkerstaates.
Anlass des Konfliktes waren der Angriff der TDF auf mehrere Militärbasen entlang der äthiopisch-eritreischen Grenze, die wichtiges Militärequipment enthielten. Zuvor kam es immer wieder zu Spannungen zwischen der regionalen Tigray-Regierung und der Wohlstandspartei unter Premierminister Abiy. Unter anderem wollte die TPLF sich nicht der Parteienallianz unter Abiy anschließen, zudem führten sie landesunabhängige Entscheidungen durch, wie z.B. die Durchführung von Regionalwahlen, nachdem die Zentralregierung aufgrund der Corona-Pandemie sämtliche Wahlen vertagt hatten. Außerdem stellte die TPLF von 1991 bis 2018 nach dem Sturz der Derg-Diktatur eine autoritäre Regierung, welche erst nach schweren Protesten der Bevölkerung von Abiy und seinem politischen Bündnis abgelöst wurde.