
Das Eskalationspotential zwischen Aserbaidschan und dem Iran war seit deren Staatsgründungen noch nie so hoch wie derzeit: Die beiden Staaten scheinen sich seit der Niederlage Armeniens im Bergkarabachkrieg vor fast einem Jahr auf einem Konfrontationskurs zu befinden, der sich seit einer Woche massiv zugespitzt hat, beide Seiten drohen mit der gegenseitigen Auslöschung des Landes. Größter Anlass dafür sind die neu entstehenden Bündnisse im Nahen und Mittleren Osten, insbesondere die Zusammenarbeit zwischen Aserbaidschan und Israel wird in der iranischen Regierung mit großer Sorge betrachtet, während weiterhin islamistische Söldner aus Syrien von der Türkei beauftragt in Aserbaidschan stationiert sein sollen. Denn gerade andere Staaten spielen in diesem potentiellen Stellvertreterkonflikt eine wichtige Rolle.
Als Reaktion verlegte das iranische Militär Zehntausende bis Hunderttausende Truppen in Alarmbereitschaft und transportierte Dutzende Verbände in die aserbaidschanisch-iranische Grenzregion und startete eigene Militärübungen unter der Argumentation, Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Bestandteil darin waren neben der großen Drohnenflotte auch Panzerdivisionen und Artilleriebattalione, allesamt für einen bewaffneten Konflikt bereit. All dies geschieht in einer Region, die auf beiden Seiten mit großer Mehrheit von Aseris bewohnt werden: Denn im Iran selber leben mehr Mitglieder dieses ethnischen Volkes als in Aserbaidschan selber. Für viele Jahrhunderte waren beide Länder in einem Staat vereint, bis heute existieren enge kulturelle und familiäre Bindungen, die nun bedroht werden. Drei wichtige Faktoren können als Ursache dafür genannt werden:
Als direkter Anlass können zwei Ereignisse festgestellt werden: Einmal wurden Anfang Oktober mehrere iranische LKW-Fahrer auf dem Weg nach Armenien über Aserbaidschan angehalten und zudem festgenommen, wo sie sich bis heute befinden. Seit der Eroberung von Bergkarabach durch Aserbaidschan führt nur noch eine direkte Route zwischen Iran und Armenien, andere Wege stehen nun unter aserbaidschanischer Kontrolle. Diese führten vor kurzem erst Wegzoll für iranische LKWs ein, nun sind deren Fahrer ebenfalls Schikanen ausgesetzt, das iranische Außenministerium forderte die sofortige Entlassung der zwei gefangen genommenen Fahrer. Parallel dazu ereignete sich eine groß angelegte Militärübung unweit der iranisch-aserbaidschanischen Grenze, an der sich auch große Truppenverbände der Türkei und Pakistans beteiligten. Dies wurde vom Iran als eine zusätzliche Provokation aufgefasst.
Ein weiterer Faktor ist auf den Karabachkrieg zurückzuführen, der sein jähes Ende vor einem Jahr fand. Dort setzten aserbaidschanische Kräfte bzw. die türkische Armee rigoros Hunderte islamistische Söldner aus Syrien ein, die insbesondere unter den Grenztruppen des Landes organisiert wurden und mit regelmäßigen Drohungen gegenüber Andersgläubigen und dem Iran in Erscheinung traten. Derartige Stellvertreterkräfte so nah an der Grenze wurden von der iranischen Regierung zweifelsohne als Provokation aufgefasst, vor allem auch da es zum Zeitpunkt des Krieges der wohl engste Verbündete Armeniens war und nun eine größere gemeinsame Grenze zwischen dem eigenen Staatsgebiet und Aserbaidschan teilen muss. Zudem existieren ernsthafte Befürchtungen im Iran, dass einerseits viele syrische Söldner weiterhin im Land präsent sind und gezielt in den kürzlich wiedereroberten Gebieten von Bergkarabach angesiedelt werden sollen, um die bestehenden demographischen und ethnischen Zusammensetzungen zu ändern. Beweise für letztere Darstellungen gibt es jedoch nicht.
Als wohl wichtigster Grund jedoch ist das Verschieben geopolitischer Machtblöcke und Allianzen im Nahen und Mittleren Osten, vor allem innerhalb der sunnitischen Ordnungsmächte. Während Saudi-Arabien aufgrund ihrer Öl-Abhängigkeit und einem verlorenen Krieg im Nachbarland Jemen weiter an Einfluss verliert, gewinnt die Türkei an Macht und Geltung, auch da sich die herrschende AKP als dezidierte islamische Schutzpartei der Sunniten im Ausland in Erscheinung tritt und zudem eine Stärkung pan-turkvölkischer Bündnisse (unter anderem mit Pakistan und Aserbaidschan) ins Auge fasst. Traditionell hatten Iran und die Türkei in der Vergangenheit gute bis pragmatische Beziehungen, gemeinsame Feinde mit der PKK oder Israel einten, während verschiedene Seiten in Stellvertreterkriegen (Syrien, Libanon, Irak und zuletzt Bergkarabach) die beiden Seiten immer weiter entzweiten. Die größere „Feindschaft“ entwickelt sich jedoch zu Aserbaidschan, dem einstigen Brudervolk.
Ebenso wie mit der Türkei besaß der iranische Staat relativ gute Beziehungen zu Aserbaidschan, aufgrund der gemeinsamen Historie, Kultur und regionalen Situation wenig überraschend. Aber Aserbaidschan sucht zunehmend die Annäherung zu Israel, dem Erzrivalen des Irans, welche in der gesamten Region mithilfe von Stellvertretern um Einfluss kämpfen und dabei auch kein Halt vor direkten Aktionen machen, wie der geheimen Angriffe auf zivile Frachtschiffe zwischen den beiden Seiten oder die regelmäßigen Sabotageaktionen auf iranische Infrastruktur belegen. Wenig verwunderlich also, dass die militärische und wirtschaftliche Kooperation zwischen Aserbaidschan und Israel innerhalb der iranischen Führungsriege negativ angesehen wird. Im Krieg mit Armenien konnten insbesondere israelische Kampfdrohnen im aserbaidschanischen Arsenal überzeugen, der vielfältige Einsatz von israelischen Harop-Drohnen z.B. sorgte für hohe Verluste in den gegnerischen Reihen. Nun möchte Baku auch noch israelische Luftabwehrsysteme erwerben.
Dementsprechend stark gibt es auch die anti-israelische Rhetorik aus dem Präsidentenpalast in Teheran zu hören, genauso wie Kriegsgebaren aus der Türkei stammen, die die „Auslöschung Irans von allen Karten“ fordern, verlangen andere Kreise die Wiedereingliederung Aserbaidschans in einen großiranischen/-persischen Staat. Bis auf die starke Zuspitzung an Drohungen existieren bisher wenige Indizien auf eine tatsächliche Eskalation oder einem Krieg. Nichtsdestotrotz wird das derzeitige Geschehen wohl die Spannungen in der Region weiter anheizen und neue Allianzen entstehen lassen, insbesondere in der Kaukasusregion.