
In der letzten, noch von islamistischen Kräften kontrollierten Provinz Idlib kehrt der Krieg zurück: Überraschenderweise starteten die syrischen Streitkräfte und verbündete Milizen einen groß angelegten Artillerie-, Raketen- und Luftangriff auf Süd-Idlib, welches seit mehreren Jahren die Frontlinie darstellt. In diesem Zeitraum waren es wohl auch die größten und intensivsten Feuersalven, die die Region seit der letzten Militäroffensive erlebt hatte. Dutzende Zivilisten wurden getötet und Tausende befinden sich wieder auf der Flucht, auch die Opposition startete mit kleineren Vergeltungsschlägen auf Regierungsorte mit ähnlichem Ergebnis. Trotz diversen Gerüchten scheint eine Bodenoperation der syrischen Armee noch fern, vor allem da die Türkei weiterhin ihre schützende Hand über die Islamisten hält.
Die letzten 72 Stunden waren von größeren Bombardements durch beide Seiten geprägt: Etliche Grenzorte wie Zirayah, al-Barah, al-Zuqum, Qulaydim, Al ‘Ankawi, al-Qahriah, Mansoura, Khirbet al-Naqus, Tel Wasit, Fulayfil oder Banin wurden von Artillerie und Drohnen der syrischen Armee heimgesucht, als Reaktion setzten verschiedene islamistische Gruppierungen wie Hurras al-Din oder Ahrar al-Sham ebenfalls Artillerie gegen die Städte Kafr Nabl oder Hantoutin unter Regierungskontrolle ein, was sich als taktischer Fehler herausstellte: Eingesetzte Artilleriesysteme, inzwischen fast allesamt von der Türkei bereitgestellt, wurden von russischen und syrischen Luftschlägen vernichtet, vereinzelt soll es auch zum Einsatz von Aufklärungsdrohnen gekommen sein.
Insgesamt sollen dabei sieben Zivilisten umgekommen sein, hinzu kommen dutzende Verletzte. Zuvor kam es immer wieder zwischen den beiden Seiten zu Sticheleien und Plänkeleien, die oftmals in Überfällen und gezielten Raketenschlägen mündeten. Zuletzt gelang es Russland vor zwei Wochen, wichtige Anführer der stärksten islamistischen Fraktion in Idlib, Tahrir al-Sham (ehemals bekannt unter den Namen Fateh al-Sham und Jabhat al-Nusra, syrischer al-Qaida-Ableger), zu töten und damit die Eskalationsspirale bezüglich der Idlib-Situation weiter zu vertiefen. Diese intensivierten, aber dennoch bisher zeitlich begrenzten Angriffe durch die syrische Regierung können zwar als möglicher Auftakt einer bevorstehenden Militäroffensive gewertet werden, jedoch existieren bisher keine weiteren Informationen über Vorbereitungen oder Pläne.
Sollte es dennoch dazu kommen, existieren mehrere Szenarien. Über die potentiellen Ziele einer Militäroperation lässt sich nur mutmaßen und hängt vor allem von der Türkei ab, die inzwischen mit etlichen Militärbasen und tausenden Truppen in Idlib präsent ist. Dementsprechend reichen die Ambitionen von einer vollständigen Wiedereroberung der Provinz bis hin zur Eroberung der M4-Autobahn, welche die Städte Latakia und Aleppo miteinander verbindet und dabei quer durch Idlib verläuft. Dabei kontrolliert das syrische Militär bereits ein Großteil der M4, lediglich der Abschnitt in Süd-Idlib liegt im feindlichen Territorium und etwa zehn Kilometer von den Armeestellungen entfernt. Die Türkei unterhält zudem mehrere vorgeschobene Kontrollpunkte entlang der Straße und weiter südlich, Angriffe darauf würden Vergeltungsschläge der Türkei provozieren.
Die Region gehört aufgrund ihren gebirgigen Terrains zu den am stärksten befestigten Hochburgen der Opposition, insbesondere ausländische Dschihadisten haben sich hier eingelagert: Tschetschenen, Degestaner, Usbeken und Türken kontrollieren das Gebiet. Die wichtigste Stadt in dem Gebiet, Jisr al-Shughour, wird oftmals als „uigurische Kolonie“ bezeichnet, da dort die chinesische „Islamische Turkestan-Partei“ ihr Lager aufgebaut hat, nachdem sie aus Afghanistan fliehen mussten. Gerade diese Gruppierung ist nicht dafür bekannt, sich an zwischenstaatliche Vereinbarungen zu halten und werden alles unternehmen, um weiterhin ihren Dschihad in Syrien ausführen zu können. Dadurch erhält die syrische Regierung wiederum eine neue Legitimation, gegen die Opposition militärisch vorgehen zu können.