
Parallel zu dem zunehmenden Gefechten zwischen syrischer Armee und oppositionellen Islamisten in der Provinz Idlib spitzt sich die Situation weiter nördlich ebenfalls zu: In den vergangenen Tagen wurde mehrmals die Stadt Afrin in der gleichnamigen Region mit Raketen und Artillerie attackiert, wozu sich aber keine Seite bekennt und die syrische Regierung und das arabisch-kurdische Milizenbündnis der „Syrischen Demokratischen Kräfte“ (SDF) gegenseitig beschuldigen. Afrin war bis 2018 ein eigenständiger kurdischer Kanton unter dem lokalen Ableger der SDF, welcher gute Beziehungen mit Russland und der syrischen Regierung besaß und seit den letzten drei Jahren in Folge einer türkisch-syrischen Militäroffensive unter der Kontrolle der „Syrischen Nationalarmee“ steht, ein loses Militärbündnis verschiedener islamistischer Milizen unter der Schirmherrschaft der Türkei. Anschläge und Überfälle von kurdischen Guerillakämpfern mit syrischer Unterstützung sind in Afrin nicht ungewöhnlich, ein direkter Angriff auf zivile Institutionen wie das Krankenhaus ist bisher jedoch einmalig.
Vor zwei Tagen wurde das zentrale al-Shifa-Krankenhaus in der Stadt Afrin von bisher unbekannten Tätern bombardiert, dabei soll es zum Einsatz von Artillerie und Raketen gekommen sein. Dabei sollen nach bisherigen Meldungen 21 Personen getötet worden sein, darunter zwei Krankenschwestern. Ersten Berichten zufolge sollen zwei Raketen gleichzeitig eingeschlagen sein, andere Meldungen sprechen von Artillerie. Einen Tag später kam es zu einem ähnlichen Vorfall, wo andere Teile von Afrin durch Artillerie attackiert wurden, was zu Dutzenden Verletzten führte. Die SDF bestreitet an diesen Aktionen beteiligt gewesen zu sein und verurteilt die „willkürlichen Aggressionen“ gegen die syrische Bevölkerung vor Ort. Die syrische Regierung veröffentlichte ein ähnliches Statement.
Bis heute beschuldigen sich Anhänger der jeweiligen Seiten gegenseitig. In Afrin operieren zwei kurdische Widerstandsgruppen, die „Afrin Liberation Forces“ und „Wrath of the Oloves“. Beide sind seit Jahren aktiv und können regelmäßig syrische Söldner oder türkische Truppen in der Region töten, vereinzelt kam es auch zu Bombenanschlägen auf Marktplätzen oder vor Postämtern. Angriffe auf Zivilisten werden oftmals damit legitimiert, dass sie sich gegen die neuen „arabischen Besatzer“ widmen, die in Folge türkischer Politik angesiedelt und die ursprüngliche, kurdische Bevölkerung vertrieben wurde. Die beiden Gruppierungen erhalten dabei in materieller und logistischer Form Unterstützung von der syrischen Regierung, die auch in der Umgebung von Afrin die einzige Kraft darstellt, die großkalibrigere Waffen wie Raketen besitzt. Wahrscheinlich ist der Angriff auf das Krankenhaus ein Resultat der syrisch-kurdischen Kooperation, wofür sich aber beide Seiten niemals bekennen würden.
Die Unterstützung für die verschiedenen kurdischen Guerillagruppen und dem Widerstand generell nährt sich auch aus der destruktiven Wut der Islamisten. Derzeit versucht man die weitläufigen Olivenplantagen zu zerstören und die dadurch entstandenen Hölzer gewinnbringend in die Türkei zu verkaufen. Afrin ist nicht nur bekannt für seine Olivenbäume, auch haben Oliven vor Ort eine enorme symbolische Bedeutung (nicht umsonst nannte die türkische Armee ihre Offensive in Afrin „Operation Olivenzweig“). Immer wieder entstehen Brände auf den Plantagen, die den Aufständischen zugeschrieben werden. Türkische Unternehmer brüsten sich damit, Olivenöl aus Afrin international weiterzuverkaufen. Die noch aus dem 19. Jahrhundert stammenden Eisenbahnstrecken werden von verschiedenen Organisationen abgebaut und das Metall eingeschmolzen, alles für den eigenen Gewinn.
Außerdem gibt es Berichte von ständigen Entführungen und Denunziationen von kurdischen Einwohnern, um die arabischen Flüchtlinge aus den anderen Teilen Syriens zu bevorteilen. So entführten Islamisten eine Familie und verlangte vom Vater Lösegeld, ansonsten werden sie umgebracht. Wenige Wochen später wurde die Familie tot aufgefunden. An einem Kontrollpunkt wurden zwei Zivilisten zunächst gefangen genommen und daraufhin exekutiert. Kurdische Bewohner werden zwangsenteignet und die Wohnungen daraufhin Flüchtlingen aus Ost-Ghouta gegeben. Währenddessen leben weiterhin etwa 150.000 Afrin-Einwohner in der Aleppo-Provinz, zwischen Tel Rifaat und der Millionenstadt Aleppo selber, in Flüchtlingslagern und besitzen keinen Zugang zu einer humanitären Versorgung.