
Neueste Entwicklungen in der letzten, noch von Islamisten kontrollierten Provinz Idlib im Nordwesten Syriens markieren eine mögliche Kehrtwende der seit März andauernden Waffenruhe, ausgehandelt unter der Obhut der Türkei und Russlands. In den vergangenen Tagen kam es zu zwei ungewöhnlichen Vorfällen, in denen die russische Luftwaffe maßgeblich beteiligt sein soll: Mitten im Kontroll- und Einflussgebiet der Türkei wurde ein Umschlagsplatz für alle möglichen Ölprodukte wie z.B. Rohöl oder Treibstoffe bombardiert, eine wichtige Einkommensquelle für syrische Schmuggler. Kurz darauf gab es den wohl seit Jahren tödlichsten Luftangriff auf eine Militärbasis einer islamistischen Miliz, die Anzahl der getöteten Personen liegt im dreistelligen Bereich. Während man über einen möglichen Zusammenhang zum Konflikt in Bergkarabach munkelt, sendet Russland eine neue Botschaft an die Türkei.
Alles begann am Wochenende, als russische Kampfjets einen Umschlagplatz für Ölprodukte nahe der syrisch-türkischen Grenzstadt Jarablus bombardierte und dabei zerstörte. In Folge der dadurch entstehenden Feuer starben mehrere Menschen, Dutzende Weitere wurden verletzt. Das Gebiet befindet sich tief im von der Türkei kontrollierten Territorium Nordsyriens und wird fast nie von russischen, syrischen oder amerikanischen Luftschlägen heimgesucht. Der Ort dient wohl als zentrale Schmuggelroute für Rohöl oder Treibstoffe aus dem Osten Syriens in die Türkei, damit ist es eine wichtige Einnahmequelle für die Opposition.
Nur wenige Tage darauf begann der tödliche Angriff auf eine Militärbasis mehrere Kilometer weiter westlich. Das Trainingslager in der Region Afrin ist Eigentum von Faylaq al-Sham, Teil der pro-türkischen sogenannten „Nationalen Befreiungsfront“, welche ein Zusammenschluss verschiedener islamistischer Milizen wie Ahrar al-Sham, Harakat al-Zenki oder eben Faylaq al-Sham. Letztere Gruppierung ist zugleich einer der wichtigsten Verbündeten für die Türkei, über sie verlaufen viele Deals mit Söldnern, die dann im türkischen Interesse in anderen Konfliktherden wie Libyen oder neuerdings auch in Bergkarabach eingesetzt werden. Die wenigen veröffentlichten Bilder des Luftangriffes zeigen, dass es zu dem Zeitpunkt zu einer großen Versammlung mehrerer Truppenverbände gekommen ist, womöglich war es eine Militärparade oder ein Zeremonie für neue Rekruten. Dem derzeitigen Stand zufolge starben dabei über 100 Kämpfer, Dutzende Weitere wurden verletzt.
Es ist ein Rätsel, was der Anlass dieser wiederaufgenommenen Luftangriffe Russlands war. Einigen Mutmaßungen zufolge soll es als Botschaft an die Türkei gelten, welche massiv in den Konflikt um Bergkarabach auf Seiten Aserbaidschans eingreifen, eigene Soldaten und Kampfjets vor Ort einsetzen, Waffensysteme im Millionenwert liefert und hunderte bis tausende syrische Söldner in das Kriegsgebiet einfliegt. Gerade Letzteres wird von den Anrainerstaaten wie Russland oder dem Iran scharf kritisiert und als Destabilisierung angesehen. Faylaq al-Sham selber hat keine eigenen Kämpfer im Kaukasus, jedoch handelt es sich um einen engen Verbündeten der türkischen Regierung und Mitglied der Astana-Verhandlungen zwischen der Türkei und Russland bezüglich einer Waffenruhe in Syrien. Zudem könnten die Angriffe als Erinnerung daran dienen, dass der Konflikt in Syrien jederzeit wieder eskalieren kann, obwohl Hunderte türkische Soldaten in der Provinz Idlid präsent sind.
Möglicherweise besteht auch ein Zusammenhang zu den überraschend wieder aufgenommenen Angriffen der Türkei und ihrer islamistischen Verbündeten auf das arabisch-kurdische Milizenbündnis der „Syrischen Demokratischen Kräfte“ (SDF) im Nordosten des Landes. Die Türkei bombardierte mehrmals die Grenzstadt Ain Issa und tötete dabei mehrere Personen, das Ziel und die Absicht dieser Bombardements sind unbekannt. Wo sich die SDF und Opposition eine gemeinsame Grenze teilen, kam es dabei auch zu schweren Gefechten. Mehrere Kampfverbände der pro-türkischen „Syrischen Nationalen Armee“ versuchten, das Dorf Khaldiyah von lokalen SDF-Sicherheitskräften zu erobern. Dieser Angriffsversuch konnte von der SDF mit der Unterstützung der dort ebenfalls präsenten syrischen Armee abgewehrt und sogar umgekehrt werden, sodass man einige Gebiete sichern konnte. Russland tritt dabei zuweilen als Schutzmacht für die SDF auf, nachdem die USA sich nach Ostsyrien zurückgezogen hat.