
In den vergangenen zwei Tagen spitzte sich die Lage in der letzten, noch von islamistischen Kräften kontrollierten Provinz Idlib weiter zu, nachdem beide Seiten immer größere Militärkonvois an die Frontlinien schicken, Russland wieder ihre Luftangriffe fliegen und Dschihadisten Überfälle auf Dörfer unter der Kontrolle der syrischen Regierung starten. Die seit drei Monaten andauernde Waffenruhe, ausgehandelt zwischen den jeweiligen Schutzmächten Russland und der Türkei, scheint ein jähes Ende zu finden, nachdem beide Fraktionen scheinbar an einer Eskalation zum eigenem Vorteile interessiert sind. Während die syrischen Streitkräfte militärisch klar überlegen sind, ist die Rolle der Türkei unklar. Eine direkte militärische Intervention wie bei der letzten Idlib-Offensive könnte zu enormen Verlusten bei der Regierung führen.
Alles begann mit dem neuesten Überfall einer dschihadistischen Miliz auf die Dörfer Tanjarah und al-Fatatrah im Norden der Provinz Hama. Bei den Angreifern handelt es sich um die Gruppierung „Hurras al-Din“, die eine Abspaltung von der größten und stärksten Fraktion innerhalb der syrischen Opposition, Tahrir al-Sham (ehemals bekannt unter den Namen Fateh al-Sham und Jabhat al-Nusra), darstellt. Grund ihrer Unabhängigkeit ist in erster Linie der Bruch mit der al-Qaida-Führung, während Tahrir al-Sham eine unabhängigere Politik fernab von al-Qaida verfolgt, steht Hurras al-Din weiterhin in enger Beziehung mit dieser. Es ist bereits die zweite Operation der gleichen Gruppe auf die gleichen Dörfer.
Russland reagierte umgehend mit eigenen Luftangriffen auf Stellungen von Hurras al-Din in der Region, allen voran in den Orten Kafr Oweid und al-Muzarra. Dabei handelt es sich auch um die ersten Aktivitäten Russlands seit zwei Monaten (mit einer einzigen Ausnahme). Bis in den Abend hinein fliegt die russische Luftwaffe unentwegt ihre Angriffe in einer Intensität, die man lange nicht mehr gesehen hat. Das syrische Militär selber reagierte ebenfalls mit Gegenangriffen und dem Versuch, Tanjarah wiederzuerobern. Dabei wurde angeblich ein Militäroffizier durch Hurras al-Din gefangen genommen.
Dem Ereignis vorausgegangen sind wochenlange Truppentransporte und Verstärkungen, die die Frontlinien von Idlib erreicht haben. Insbesondere die SAA soll ihre Truppen in den Provinzen Hama und Latakia verstärkt haben, während islamistische Kräfte wie Tahrir al-Sham vor kurzem erst einen rund 80 Fahrzeuge zählenden Konvoi nach Jabal al-Akrad in Latakia geschickt haben. Ohnehin sieht es danach aus, dass eine potentielle Militäroperation seitens der syrischen Regierung genau dort stattfinden würde. Die Region gehört aufgrund ihren gebirgigen Terrains zu den am stärksten befestigten Hochburgen der Opposition, insbesondere ausländische Dschihadisten haben sich hier eingelagert: Tschetschenen, Degestaner, Usbeken und Türken kontrollieren das Gebiet. Die wichtigste Stadt in dem Gebiet, Jisr al-Shughour, wird oftmals als „uigurische Kolonie“ bezeichnet, da dort die chinesische „Islamische Turkestan-Partei“ ihr Lager aufgebaut hat, nachdem sie aus Afghanistan fliehen mussten. Gerade diese Gruppierungen sind nicht dafür bekannt, sich an zwischenstaatliche Vereinbarungen zu halten und werden alles unternehmen, um weiterhin ihren Dschihad in Syrien ausführen zu können. Dadurch erhält die syrische Regierung wiederum eine neue Legitimation, gegen die Opposition militärisch vorgehen zu können. Mit den ständigen Überfällen von Hurras al-Din umso mehr.
Der derzeitige Deal erinnert frappierend an all die Waffenruhen der vergangenen Jahre. So einigten sich Russland und die Türkei beispielsweise 2018 auf eine etwa 15 bis 20 Kilometer breite „demilitarisierte Zone“ entlang der Frontlinien in den Provinzen Idlib, Hama und Aleppo. Diese Pufferzone soll eine militärische Eskalation der derzeitigen Situation in Idlib verhindern. Die Kontrolle sollten dann türkische und russische Patrouillen in einem Gebiet übernehmen, welches vom Latakia-Gebirge bis an die Großstadt Aleppo reichte. Heute ist das Ergebnis offensichtlich: Nach mehrfachen Brüchen und neuen Verhandlungsversuchen kontrolliert die syrische Armee die Hälfte der Provinz Idlib und die Provinz Aleppo inzwischen fast vollständig.