
Der libysche Konflikt hat trotz der anhaltenden Coronakrise und den zunehmenden Fallzahlen im Land nicht an seiner Intensität abgenommen. Durch die massive Unterstützung der Türkei kann die sogenannte „Einheitsregierung“ unter Premierminister Faiyz al-Sarraj, welche den Nordwesten des Landes kontrolliert, sich aus der defensiven Situation befreien und einige Gegenoperationen gegen die „Libysche Nationalarmee“ unter der Führung Khalifa Haftars und der ostlibyschen Tobruk-Regierung initiieren, auch wenn ein wirklicher Erfolg bisher ausblieb. Diese neue Initiative ist vor allem auf die Waffen der Türkei und dem Blut Tausender syrischer Söldner gebaut, worunter sich auch Kindersoldaten befinden sollen.
Besonders gefährlich für die Libysche Nationalarmee ist die zunehmende Drohnenflotte im Land, welche aus der Türkei importiert und gesteuert wird. Immer mehr Drohnenangriffe treffen vereinzelte Fahrzeuge oder Militärkonvois, die die Frontlinien in Tripolis oder weiter westlich nahe der Watiyah-Luftwaffenbasis verstärken sollen. Dutzende sterben inzwischen an diesen gezielten Anschlägen. Die Tobruk-Regierung ist schwerfällig in ihrer Reaktion und setzt vermehrt Luftabwehrsysteme aus bzw. von den Vereinigten Arabischen Emiraten ein, welche zwar immer wieder Drohnen erfolgreich abschießen, jedoch bisher wenig gegen die quantitative Dominanz der Drohnen ausrichten konnten.
Währenddessen spielen Syrer eine immer größer werdende Rolle im libyschen Konflikt. Auf Seiten der Libyschen Nationalarmee gibt es weiterhin nur unbestätigte Berichte darüber, dass die russische Privatarmee Wagner syrische Kämpfer rekrutiert und ausgebildet hat, welche nun im kommenden Zeitraum in Libyen eingesetzt werden sollen. Bei der Einheitsregierung nimmt die Anzahl der eingesetzten syrischen Islamisten, ausgebildet in Syrien und transportiert durch Passagierflugzeuge über Türkei nach Libyen, frappierend zu. Während realistische Schätzungen von etwa 2000 bis 3000 Söldner sprechen, gibt es auch einige Gerüchte von Zahlen bis in den fünfstelligen Bereich. Einige von ihnen sollen bereits erfolglos versucht haben, über den Seeweg nach Europa bzw. Italien zu fliehen, auch da die Türkei immer wieder die Löhne nicht auszahlt.
Der Großteil der involvierten Syrer stammt aus dem Norden Syriens, also jenen Regionen, die von der Türkei zusammen mit ihren Stellvertretern besetzt wird. Über die Jahre hinweg hat die Türkei versucht, diese ehemaligen oppositionellen Kämpfer durch Finanzierung und Ausbildung zu einer einheitlichen Gruppierungen (der sogenannten „Syrischen Nationalarmee“ auszubauen, jedoch bestehen bis heute die etlichen Milizen weiterhin und bekämpfen sich im türkisch kontrollierten Territorium mitunter auch gegeneinander. Die meisten Kämpfer stammten von eng mit der Türkei verbündeten Organisationen wie der Sultan-Murad-Brigade, der Hamza-Division oder Ahrar al-Sharqiya. Teilweise gibt es auch Mitglieder von Tahrir al-Sham, der radikalislamistischen Miliz aus der syrischen Provinz Idlib, welche sogar von der Türkei selber als terroristische Gruppierung klassifiziert wird. Sie alle vereint die Aussicht auf das schnelle Geld in Libyen, von den einstigen Idealen der „syrischen Revolution“ verbleibt wenig.
Da es sich bei diesen Syrern nur aus Söldner aus libyscher Sicht handelt, werden sie oft an den Frontlinien eingesetzt, insbesondere in dem vom urbanen und blutigen Häuserkampf geprägten Tripolis. Viele von ihnen sterben, zuletzt soll sich darunter auch der 14-jährige Usama al-Mousa befinden, welcher Mitglied der Sliman-Shah-Brigade war. Enige von ihnen werden von der Tobruk-Regierung gefangen genommen und später der syrischen Regierung überstellt. Beide Seiten stellten erst vor wenigen Monaten ihre Beziehungen wieder her, wahrscheinlich auch als Reaktion auf die zunehmende Rolle von Syrern in Libyen. Vor zwei Tagen wurden die ersten acht Kämpfer nach Syrien überstellt.
Die Tobruk-Regierung unter Kahlifa Haftar kontrolliert etwa 90% des Landes, ein Großteil davon ist jedoch Wüste. Die dortige Koalition bestand zunächst aus verschiedenen Milizen, welche sich jedoch auch aufgrund internationaler Hilfe zunehmend professionalisierten und inzwischen in Form der „Libyschen Nationalarmee“ zu den stärksten Streitkräften auf dem libyschen Schlachtfeld gehören. Dennoch agieren viele Milizen unter dem Schirm der LNA weiterhin unabhängig. Haftar verschrieb sich persönlich primär der Bekämpfung von islamistischen Kräften im Land, so wurden über mehrere Jahre und Monate hinweg Städte wie Benghazi oder Dernah aus den Händen des Islamischen Staates, al-Qaidas oder lokaler Islamisten befreit. Unterstützt wird er dabei vor allem durch Russland, das Nachbarland Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate und auch Frankreich, welches zunehmend gute Beziehungen zu Haftar aufrecht erhält, nachdem er für eine Notoperation nach Frankreich transportiert wurde. Auch Griechenland, Saudi-Arabien und Jordanien unterstützen Ostlibyen. Zudem ist er amerikanischer Staatsbürger, nachdem er erfolglos gegen Ghadaffi 1989 geputscht hatte und die USA ihm eine Zuflucht anbot.
Auf der anderen Seite befindet sich die sogenannte „Einheitsregierung“, welche von der UN als legitimer Vertreter des libyschen Staates angesehen wird. Im Vergleich zur Tobruk-Regierung existiert eine niedrigere militärische und politische Einheit, immer wieder versuchen lokale Milizen aus den verschiedenen Vorstädten von Tripolis um die Herrschaft zu buhlen und attackierten auch mehrmals die örtlichen „Tripolis Protection Force“. Die verschiedenen Milizen vor Ort haben die tatsächliche Macht in der Region, die Regierung unter al-Sarraj ist vergleichsweise machtlos und auf die internationale Unterstützung angewiesen. Diese Unterstützung erhalten sie in erster Linie von der Türkei, aber auch der Iran und Katar transportierten bereits Waffen und lieferten finanzielle Hilfe. Der Konflikt zwischen der Einheits- und Tobruk-Regierung ist aber nicht nur Ausdruck geopolitischer Machenschaften, sondern zeigt die weiterhin bestehende Aufteilung des Landes in das ostlibysche Cyranaika und westlibysche Tripolitanien auf, die die angespannten Beziehungen der Regierungen und Bevölkerung stärken.