In der Nacht zum Freitag kam es zu der bis dato größten Eskalation zwischen der Türkei auf der Einen und Russland und der syrischen Regierung auf der anderen Seite. Bis zu 33 türkische Soldaten wurden in der letzten, noch von Islamisten kontrollierten Provinz Idlib durch mehrere Luftschläge getötet, nachdem die Türkei wochenlang Armeepositionen bombardierte und ihre syrischen Stellvertreter aktiv unterstützt, teilweise sogar versuchte, russische und syrische Kampfjets abzuschießen. Während die syrische Armee in Idlib weiterhin Fakten auf dem Boden schafft und neue Gebiete einnimmt, sieht sich die Türkei auch trotz ausbleibender NATO-Unterstützung in einer Zwickmühle, die in einem Krieg zwischen türkischer und syrischer Regierung münden könnte.
Es war zunächst unklar, was sich genau am späten Abend des Donnerstags ereignete, erste Berichte sprachen von Dutzenden Rettungswagen, welche von Idlib zur türkischen Stadt Reyhanli fuhren und dabei mehrmals die türkisch-syrische Grenze überquerten. Noch zuvor verkündete Russland, den gesamten Luftraum über Idlib zu sperren und damit jegliche Evakuierung per Helikopter zu blockieren. Ein ähnliches Szenario gab es bereits einen Tag vorher, wo fünf türkische Soldaten in Süd-Idlib durch unbekannte Bombardements getötet wurden. Es ist nicht ganz klar, wo genau sich die Bombardements und von wem (grundsätzlich wird Russland als Täter angenommen, obwohl die Türkei Assad die Schuld zuweist) ereigneten, angeblich wurde aber ein türkisches Militär-Hauptquartier in Süd-Idlib erfolgreich vernichtet. Der Tod der türkischen Soldaten wird allgemein als Reaktion darauf bestanden, dass sie zum wiederholten Male schultergestützte Luftabwehrraketen (MANPADS) auf russische und syrische Kampfjets gestartet haben, diese aber ihr Ziel verfehlten.
Zudem veröffentlichten türkische Medien minutenlange Videos, die Drohnen- und Luftangriffe des türkischen Militärs auf Armeestellungen, Soldaten und Panzerformationen zeigt. Der Großteil des veröffentlichten Materials stammt wohl aus den vergangenen Wochen und keiner direkten Reaktion auf den Tod Dutzender türkischer Soldaten, jedoch zeigt sich damit das Ausmaß der türkischen Intervention zur Unterstützung syrische Islamisten. Dutzende Panzer und ebenso viele Soldaten wurden zerstört oder getötet, Tendenz steigend. Dies erklärt auch teilweise den Verlust mehrerer Dörfer und Städte im Umkreis von Saraqib in den vergangenen Tagen, da die syrischen Streitkräfte enorme Verluste erleiden mussten.
Nichtsdestotrotz kann die Syrisch-Arabische Armee im Süden der Provinz Idlib weiter vorrücken und mehrere Dörfer erobern, nun befinden sich die Ghab-Felder vollständig unter der Kontrolle Syriens. Damit befindet sich die syrische Regierung nur noch fünf Kilometer von der M4-Autobahn zwischen Latakia und Aleppo entfernt, welche als das Ziel des derzeitigen Vorstoßes gilt. Durch die Eroberung der Stadt Saraqib und unzähliger Waffen und Fahrzeuge durch Islamisten wäre aber dieses Ziel, die Verbindungsstraße zwischen Latakia und Aleppo vollständig kontrollieren zu können, verfehlt. Bis auf den Ereignissen im Zusammenhang mit der Türkei kam es zu keinen wirklichen Gefechten mit oppositionellen Kräften.
Von den anfänglichen Drohungen der türkischen Regierung und weiten Teilen der Bevölkerung ist man inzwischen abgerückt, vor allem nachdem man von der NATO und dem Westen generell nicht die gewünschte Unterstützung in Form einer militärischen Kooperation erhalten hat. Aufgrund dessen setzte die Türkei den Flüchtlingsdeal mit der EU für 72 Stunden aus und öffnete die Grenzen zu Bulgarien und Griechenland, welche zunächst mit dem Ansturm hunderter Flüchtlinge überfordert sind. Bereits zu Beginn der türkischen Intervention in Idlib verlangte die Türkei die Stationierung und den Einsatz amerikanischer Patriot-Luftabwehrsysteme um somit den Luftraum über Idlib für sich zu sichern und Russland weiter zu blockieren.
In den vergangenen Wochen hat die Türkei massiv in der Provinz Idlib aufgerüstet und ihre Aggressionen gegenüber der syrischen Regierung verstärkt. Tausende Soldaten und etliche Militärfahrzeuge überquerten die syrisch-türkische Grenze, um an den Frontlinien Präsenz zu zeigen und damit ein weiteres Vorrücken der syrischen Armee aufzuhalten, bisher aber ohne Erfolg. Inzwischen intervenierte die Türkei sogar direkt in die Gefechte, unter anderem durch den Einsatz von mehreren Artillerie-, Raketen- und Luftabwehrsystemen. Die syrische Reaktion ließ nicht lange auf sich warten und so wurden bereits mehrfach türkische Militärkonvois bombardiert, die bisher zu über 50 getöteten türkischen Soldaten geführt haben. Zudem wurden mehrere Militärbasen der Türkei erfolgreich in den Provinzen Idlib und Aleppos eingeschlossen, wodurch sie sich in „Geiselnahme“ befinden. Die Türkei stellte der syrischen Regierung bis Ende Februar ein Ultimatum, sich aus den neu eroberten Gebieten in Idlib zurückzuziehen, ansonsten werde man einen militärischen Gegenangriff starten.
Die kurz vor Weihnachten gestartete Offensive im Südosten Idlibs der syrischen Armee stellt der eigenen Darstellung zufolge die „zweite Phase“ der Idlib-Offensive dar, nachdem es im Mai zur ersten größeren Operation in Nord-Hama gekommen ist und in dessen Folge mehrere wichtige Städte wie Khan Sheikhoun erobert wurden. Zu den wichtigsten Zielen dieser Phase zählt die vollständige Eroberung der M5-Autobahn, welche Aleppo und Damaskus miteinander verbindet, der zweitgrößten Stadt Idlibs namens Maraat al-Numan und Sicherung der Vororte Aleppos. Dies entspricht etwa einem Drittel des gesamten, von der Opposition gehaltenen Territoriums in Idlib. Nun wird diese zweite Phase scheinbar um die Eroberung der M4-Autobahn und jener Gebiete südlich erweitert.