Seit über einem Monat dauern die gewaltsamen Proteste und Ausschreitungen im Irak zwischen Zehntausenden Demonstranten und den staatlichen Sicherheitskräften an. Obwohl es zeitweise wieder ruhiger wurde, entbrannten in den vergangenen Tagen immer wieder neue Proteste und deren brutale Niederschlagung, inzwischen wird die Anzahl der Toten von beiden Seiten auf insgesamt 300 geschätzt, Tendenz steigend. Während die Gewalt weiter eskaliert, ist weiterhin keine politische Lösung in Sicht, die inzwischen internationalen Forderungen nach Neuwahlen werden abgelehnt.
Besonders im verarmten und Infrastruktur schwachen Süden und der irakischen Hauptstadt Bagdad kommt es zu Demonstrationen. Zehntausende Aufständische konnten Teile der mitten in Bagdad liegenden „Green Zone“, eine schwer bewachte Sicherheitszone in welcher viele Botschaften und staatliche Institutionen liegen, stürmen und mindestens ein Gebäude besetzen. Erst mit dem Einsatz von Schusswaffen, Tränengas und Gummigeschossen konnte die Polizei und Armee die Protestierenden wieder vertreiben, dabei starben Dutzende Personen. Eine immer öfter auftauchende Todesursache sind direkte Kopftreffer von Tränengasgranaten, welche Teile des Schädels durchbohren und damit tödlich sein können.
In dem Zusammenhang kommt es auch immer wieder zu Berichten von „unbekannten Scharfschützen“ und Angreifern, welche Soldaten der irakischen Armee ebenso ins Visier nehmen. Einige Gerüchte sprechen von „iranischen Provokateuren“, während Schläferzellen des Islamischen Staates als wesentlich wahrscheinlichere Täter gelten, auch da sie besonders nördlich von Bagdad noch ein wichtiges Rückzugsgebiet besitzen.
Auch religiöse Anführer unterstützten die Proteste, unter anderem der einflussreiche Gelehrte und Vorsitzender einer großen Partei, Muktada al-Sadr. „Um weiteres Blutvergießen zu vermeiden“ müsse die Regierung zurücktreten und vorgezogene Neuwahlen unter UNO-Aufsicht müssten stattfinden, schrieb al-Sadr in einem am Freitag veröffentlichten Brief. Auch der Großayatollah Ali al-Sistani, welcher eine entscheidende Rolle in der Mobilisierung gegen den Islamischen Staat spielte, bekundigte seine Unterstützung für die derzeitigen Demonstrationen. Beide schiitischen Gelehrte stammen aus dem eher nationalistischen Lager und lehnen einen weiteren Einfluss des Irans auf das Land ab.
Neben der schlechten Versorgungslage, Korruption und der ausbleibenden Reparatur der Infrastruktur richten sich viele Proteste, vor allem im Süden, gegen die weiterhin bestehende Präsenz im Iran. Traditionell wird der Iran als Besatzungsmacht und Feind angesehen, zudem kann der persische Staat durch den billigen Export von Waren auch den Irak weiter in die eigene wirtschaftliche Abhängigkeit bringen. Als Reaktion auf die Ausschreitungen wurden mehrere Grenzübergänge zwischen den beiden Ländern geschlossen. Zudem unterstützt der Iran mehrere schiitische Gruppierungen im Land, die sich vor allem im Dachverband der „Volksmobilisierungseinheiten“ (PMU oder auch Hashd al-Shaabi) organisieren. Diese haben zwar entscheidend zum Sieg gegen den IS beigetragen und waren zudem ein wichtiger Arbeitgeber, werden heutzutage aber als „Korruptionsträger“ angesehen.