Der Islamische Staat beweist im Schatten der bevorstehenden türkischen Invasion in Nordsyrien seine weiterhin bestehende Präsenz in den Territorien der arabisch-kurdischen „Syrischen Demokratischen Kräften“ (SDF). In der Nacht zum Mittwoch starteten Dutzende Schläferzellen eine groß angelegte Operation auf die Großstadt Raqqah und versuchten sogar, das Zentrum der Stadt zu erobern. Mehrere Selbstmordattentäter kamen zum Einsatz, stundenlang wurde in verschiedenen Orten in der Stadt gegen einen scheinbar unsichtbaren Gegner gekämpft. Dieser neueste Angriff ist ein Symbol für die Kapazitäten der Terrormiliz, die sie noch in weiten Teilen des Landes verfügen. Als großer Nutznießer profitiert der Islamische Staat von der zunehmend destabilisierenden Situation und kann seine Kräfte neu formieren.
Der genaue Ablauf des Angriffes ist weiterhin ungeklärt, da es zu dem Zeitpunkt in Raqqah zu einem Stromausfall kam. Angeblich attackierten bis zu 50 IS-Anhänger das Zentrum mitsamt einer zentralen Militärbasis in der Stadt, welche aber scheinbar zurückgeschlagen werden konnten. Der Islamische Staat setzte drei Selbstmordattentäter auf Positionen der SDF-Kämpfer ein, die eine unbekannte Anzahl an Personen töteten. Diese koordinierte Operation war möglicherweise der erfolglose Versuch, ein ähnliches Szenario wie in Mossul 2014 zu erschaffen und die Kontrolle der Stadt dadurch zu erreichen, dass man die Verteidiger in die Flucht schlägt. Ungewöhnlich war zudem der Angriff auf ein militärisches Ziel, da der IS ansonsten die wesentlich einfacheren zivilen Ziele verfolgt.
Der IS kann seine Macht immer weiter ausbauen. Bis in das tief im SDF-Gebiet gelegene Stadt Taqba gibt es Berichte von Attentaten und Anschlägen auf einzelne Kämpfer des arabisch-kurdischen Milizenbündnisses. Dabei ergibt sich meistens ein ähnliches Bild: In der Nacht hinterlassen IS-Schläferzellen improvisierte Sprengstofffallen (IEDs) auf Straßen, die daraufhin von herannahenden Kämpfern oder Fahrzeugen ausgelöst werden. Dem Islamischen Staat nahe stehenden Medien wie die Nachrichtenagentur AMAQ berichten von insgesamt über 100 getöteten „PKK-Kämpfern“ innerhalb eines Monats, wobei insgesamt elf Fahrzeuge zerstört wurden. Erst im neueren Zeitraum kann der IS auch Bilder und Videos von den Anschlägen und ihrem Ergebnis veröffentlichen, was auf eine stärkere Präsenz vor Ort zurückzuführen ist.
Besonders effektiv der der Islamische Staat in der Förderung von ethnischen Konflikten, so wurde im letzten jahr der arabische Stammesführer Bashir Faisal al-Huwaidi in Raqqa ermordet. Bei der von seinem Stamm organisierten Beerdigung von al-Huwaidi kam es dann zum Eklat: Vertreter der Syrischen Demokratischen Kräfte wurden während der Beerdigung ausgebuht und daraufhin vertrieben. Später kam es zu Hassreden gegen sie bzw. die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), dem Kern der SDF. Dabei stärkt man die bereits seit Jahrzehnten bestehenden Ressentiments zwischen der mehrheitlich arabischen Bevölkerung und der mehrheitlich kurdischen SDF. Der Islamische Staat rekrutierte damals viele Mitglieder des al-Afadela-Stammes, dementsprechend werden auch weiterhin Sympathien existieren.
Zwar konnte die YPG bzw. SDF die Situation durch erfolgreiche Anti-Terror-Operationen mit amerikanischer Unterstützung entschärfen und viele Schläferzellen zerstören, jedoch finden sich gerade im Osten des eigenen Territoriums immer noch große Sympathien für die Islamisten. Da aber nun eine türkische Großoffensive droht, scheint die Gefahr vor einem erneuten Aufstieges des Islamischen Staates ein sekundäres Problem für die Kurden zu sein. Bereits jetzt warnte man davor, dass die bis zu 12.000 gefangenen IS-Kämpfer und 50.000 Familienmitglieder kaum zu bewältigen sind.