Der amerikanische Präsident Donald Trump hat den plötzlichen Abzug Tausender US-Soldaten aus Syrien mit dem Argument legitimiert, dass der Islamische Staat im Land besiegt sei und damit auch der einzige Grund entfällt, weiterhin Truppen vor Ort zu haben. Mit dieser Ansicht scheint Trump selbst in der amerikanischen Politik isoliert zu sein, die Wirklichkeit sieht nämlich anders aus: Der Islamische Staat konnte sich nun seit fast einem Jahr erfolgreich in einem etwa 20 Kilometer langen Streifen entlang des nördlichen Ufer des Euphrats in der ostsyrischen Provinz Deir ez-Zor halten und dabei mehrere Dörfer und Städte halten, insgesamt sollen sich Tausende Islamisten noch in der Region aushalten. Auch in den vom arabisch-kurdischen Milizenbündnis der „Syrischen Demokratischen Kräfte“ (SDF) wiedereroberten Gebieten erhöht der IS seine Aktivitäten, verübt immer öfters Anschläge und Attentate. Von einer „besiegten“ Terrormiliz zu reden ist mehr als nur irreführend.
Mithilfe amerikanischer Unterstützung findet im Euphrat-Tal nahe der irakischen Grenzregion derzeit eine Offensive der SDF mit dem Ziel statt, den Islamischen Staat völlig zu eliminieren. Obwohl man Fortschritte in der einst 40.000 Einwohner zählenden Stadt Haijin verzeichnen kann, ist der Widerstand der IS-Kämpfer erheblich. Die zumeist ausländischen und irakischen Dschihadisten haben in der Stadt ein komplexes System an Fallen, Tunneln und Minenfeldern errichtet, die das Vorrücken in der ohnehin zerstörten Stadt nur noch mehr erschwert. Die USA unterstützt die Operation derweil mit schwerer Artillerie und Luftschlägen, in der letzten Woche vor Trump’s Ankündigung wurden innerhalb einer Woche über 200 Luftschläge geflogen; ein neuer Rekord seit langer Zeit.
Sollten sich amerikanischen Truppen nun zurückziehen, wäre diese vitale Unterstützung ihres stärksten Verbündeten weg und man wäre auf sich alleine gestellt. Nicht nur wird die derzeitige Offensive der SDF von arabischen Milizen unter dem Kommando des Deir-ez-Zor-Militärrates angeführt, welcher einen schlechten Ruf wegen Korruption und schlechter militärischer Führung genießt, auch sah man bereits in der Vergangenheit das weiterhin bestehende Offensivpotential des Islamischen Staates. Erst vor einem Monat überrannten IS-Kämpfer mehrere Dörfer in südlicher Richtung, töteten Dutzende SDF-Anhänger und nahmen 15 Kämpfer gefangen. Alle Fortschritte der Kurden seit März wurden verloren, auch weiterhin hält der Islamische Staat diese Orte. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Islamisten in einem solchen Falle auch den Kampf um Haijin wenden könnten.

Seit mehreren Wochen und Monaten hat der Islamische Staat auch seine Aktivitäten hinter den Frontlinien erhöht, vor allem in den Provinzen Raqqah und Hasakeh. Bis in das tief im SDF-Gebiet gelegene Stadt Taqba gibt es Berichte von Attentaten und Anschlägen auf einzelne Kämpfer des arabisch-kurdischen Milizenbündnisses. Dabei ergibt sich meistens ein ähnliches Bild: In der Nacht hinterlassen IS-Schläferzellen improvisierte Sprengstofffallen (IEDs) auf Straßen, die daraufhin von herannahenden Kämpfern oder Fahrzeugen ausgelöst werden. Dem Islamischen Staat nahe stehenden Medien wie die Nachrichtenagentur AMAQ berichten von insgesamt über 100 getöteten „PKK-Kämpfern“ innerhalb eines Monats, wobei insgesamt elf Fahrzeuge zerstört wurden. Erst im neueren Zeitraum kann der IS auch Bilder und Videos von den Anschlägen und ihrem Ergebnis veröffentlichen, was auf eine stärkere Präsenz vor Ort zurückzuführen ist.
Diese Attentate nähren vor allem die Ressentiments zwischen der arabischen Bevölkerung und der kurdischen Mehrheit innerhalb der SDF, so wurde Anfang November der Stammesführer Bashir Faisal al-Huwaidi in Raqqa ermordet. Bei der von seinem Stamm organisierten Beerdigung von al-Huwaidi kam es dann zum Eklat: Vertreter der Syrischen Demokratischen Kräfte wurden während der Beerdigung ausgebuht und daraufhin vertrieben. Später kam es zu Hassreden gegen sie bzw. die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), dem Kern der SDF. Der Islamische Staat rekrutierte damals viele Mitglieder des al-Afadela-Stammes, dementsprechend werden auch weiterhin Sympathien existieren. Aber auch die allgemeine Situation in Raqqah ist recht kritisch, seit über einem Jahr ist ein Großteil der Stadt vollkommen zerstört, noch immer gibt es keine gesicherte Wasser- und Stromversorgung. Die Bevölkerung beschuldigt die SDF, dagegen nichts zu tun.