Eigentlich sollte Ruhe und Frieden in der nordwestlichsten Ecke des Landes herrschen, jener Region, welche seit mehreren Monaten nun vollständig unter der Kontrolle der türkischen Streitkräfte und ihrer Stellvertreter in Syrien steht. Stattdessen aber ergibt sich im Kanton Afrin ein völlig anderes Bild: Tagtägliche Attentate, Korruption, Zerstörung, Willkür und Anomie kontrollieren das Gebiet, welches damals unter der Herrschaft der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) eher von Stabilität und Unberührtheit geprägt war. Dieses Bild kennt man nur allzu gut aus der weiter südlich gelegenen Provinz Idlib, wo verschiedene Islamistenorganisationen um den gegenseitigen Machtbereich buhlen. Ebendiese Gruppierungen sollen nun eigentlich Afrin verwalten, stattdessen aber sind sie eher an Einfluss und Geld interessiert. Noch hält der türkische Staat die Zügel in der Hand, jedoch soll sich das nach eigenem Willen ändern. Dadurch droht ein neues Machtvakuum zu entstehen, worunter gerade die Lokalbevölkerung leiden wird.
Selbst die den Extremisten von Tahrir al-Sham nahe stehende Nachrichtenagentur „Ibaa“ beschreibt die Zustände in der größten, gleichnamigen Stadt Afrin als instabil und katastrophal, die ständigen Attentate, Ränkeschmiede und Detonationen bringen den Ort an den Kollaps. Erst vor einigen Wochen explodierte im Stadtzentrum eine Autobombe, die zehn Zivilisten tötete. Immer wieder werden neue Sprengfallen entdeckt, die entweder von der YPG, oder von verfeindeten Fraktionen zurückgelassen wurden.
Besonders negativ fallen die Islamisten von „Ahrar al-Sharqiyah“ auf, welche seit ihrer Präsenz in Afrin (und auch in Nord-Aleppo) immer wieder für offen ausgetragene Konflikte gesorgt haben, oder anderweitig (z.B. durch die Zerstörung eines Spirituosen-Geschäftes oder dem Singen von dschihadistischen Nasheeds) Aufmerksamkeit erlangt haben. Erst Ende Juni kam es zu Gefechten mit der „Hamza-Brigade“ oder „al-Mutasem“, Anlass war der Umgang mit gestohlenen Waren oder die Errichtung von Checkpoints. Am Ende gab es Dutzende Tote, erst die Intervention der Türkei konnte schlimmeres verhindern.

Auch außerhalb der Stadt Afrin sieht die Situation nicht anders aus, dort kommt es inzwischen täglich zu Anschlägen und Attentaten auf Kämpfer der „Rebellen“ oder führende, kommunale Politiker. Die Täter dahinter sind Schläferzellen der Kurden, die sich offiziell als „Rache der Oliven“ (Afrin ist bekannt für seine Oliven, zudem kam es seit der türkischen Übernahme zu mehreren Bränden von Olivenplantagen) bezeichnet, aber jegliche Verbindung zur offiziellen YPG ablehnt. Meistens werden einfache Kämpfer oder Kommandanten attackiert, vor fünf Tagen aber wurde der Akash Ahmed exekutiert, welcher Mitglied im von der Türkei errichteten Stadtrat Afrin ist. Generell scheint sich der Hass der wohl aus Afrin stammenden Guerillakämpfer gegen jene zu richten, die sie als „Kollaborateure der türkischen Besetzung“ ansehen.
Die Zivilbevölkerung ist auch direkt betroffen. Lokale Quellen sprechen von der Entführung von mindestens 80 Personen durch islamistische Milizen, Andere wurden nach wochenlanger Gefangennahme grundlos wieder entlassen, einen Anlass für die Festnahme gab es ebenso wenig. Viele Einwohner sprechen von Folter, nachdem sie der Kooperation zur YPG beschuldigt werden. Viele Häuser wurden bei der Eroberung konfisziert, einige von den jeweiligen Gruppierungen besetzt und Andere Flüchtlingen aus z.B. Ost-Ghouta übergeben. Dies ist Bestandteil der türkischen Politik, die demographischen Verhältnisse in Afrin zu ändern. Statt einer enormen Mehrheit an Kurden sollen stattdessen Araber die Grenzregion zur Türkei bevölkern, insofern sie auch dem Nachbarland gehörig sind.

Die Übernahme von Flüchtlingen sorgt auch für Spannungen zwischen den „Sicherheitskräften“, den Flüchtlingen und der Lokalbevölkerung, die teilweise auch eskalieren. Nachdem die Hauseigentümer und ursprünglichen Bewohner zurückkehrten, wollte die Kommunalregierung diese Flüchtlinge in die überfüllten Flüchtlingslager bringen, was jedoch auf Protest stieß. Einen Tag später entführte die Rebellenorganisation al-Jabha al-Shamiya zwei Mitglieder der Lokalregierung und folterten sie. Später folgten Kämpfe zwischen Polizisten und Flüchtlingen. In einem Statement aber widersprach die Militärpolizei dieser Darstellung, demnach soll es sich bei den Polizisten um „Nachahmer“ gehandelt haben.
Dass die verschiedenen, einander konkurrierenden Milizen die faktische Kontrolle über Afrin haben und zudem scheinbar jeder sich als die eigentlichen „Polizeistreitkräfte“ ausgeben kann, zeigt den Zustand des vorherrschenden Sicherheitsapparates. Den zukünftigen Schutz sollen aber stattdessen ebendiese lokale, im Blitzverfahren ausgebildete Polizeistreitkräfte übernehmen, ähnlich dem Modell in anderen Regionen Syriens, die unter türkischen Einfluss wie Jarablus oder Azaz stehen. Tatsächlich aber zeigt sich dort ein ähnliches Bild: Es kommt immer wieder zu internen Gefechten zwischen pro-türkischen Kräften die die tatsächliche Macht haben, die Polizei fungiert lediglich als nett ausschauendes Aushängeschild. Korruption ist auf allen Ebenen präsent.
Doch nicht nur unter der fehlenden Sicherheit leidet die Bevölkerung, selbst die einfache Grundversorgung hat im Gegensatz zur Herrschaft unter der YPG erheblichen Schaden genommen. In der Region ist inzwischen nur noch eine Schule unter Betrieb, der Rest sowie die Universität wurden geschlossen und wahlweise in Militärbasen, Polizeihauptquartiere oder Lazarette umgewandelt. Die Strom- und Wasserversorgung wurde massiv eingeschränkt, von einst etwa zwölf Stunden Strom am Tag gibt es heute nur noch etwa zwei an einem Tag, manchmal so gar keine Elektrizität. Aus dem Kawa-Platz im Stadtzentrum (benannt nach der persisch-kurdischen Mythenfigur eines Schmiedes) wurde inzwischen der „Recep-Tayyip-Erdogan-Platz“. Die kurdische Identität und Zivilgesellschaft, die einst friedlich und relativ geschützt vom Syrien-Konflikt lebte, ist nun völlig zerstört.
Ein Gedanke zu „Islamisten exportieren Instabilität und Gewalt nach Afrin“